Ukraine: Tradition und Moderne in der Musik
Als größter Flächenstaat Europas - wenn man einmal von Russland absieht - ist die Ukraine nicht nur die Wiege des Kosakentums, sondern auch einer Jahrtausende alten Musikkultur.
Einen der bedeutendsten musikalischen Einflüsse haben zweifelsohne die Kosaken. Doch die Ursprünge ukrainischer Musik gehen viel weiter zurück. Bei Ausgrabungen in der Nähe der Stadt Tscherniwzi (Czernowitz) wurden 20.000 Jahre alte Knochenflöten und Musikinstrumente aus Mammutstoßzähnen entdeckt.
Ukrainische Kultur seit frühem Mittelalter
Obwohl die Ukraine erst seit 1991 ein souveräner Staat ist, lässt sich die Entwicklung einer eigenständigen ukrainischen Kultur bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen. Dabei streiten sich die Geschichtsschreiber, ob die sogenannte Kiewer Rus (auch Kiewer Reich) - ein ostslawisches Großreich, das seit dem Ende des 9. Jahrhunderts bestand - Vorläufer der Ukraine ist oder nicht doch die Keimzelle des heutigen Russland. Sicher ist, dass sich die Kiewer Rus Zeit ihres Bestehens gegen einfallende asiatische Nomadenstämme zur Wehr setzen musste - darunter auch die Tataren, die sich später auf der Krim niederließen - und schließlich im 13. Jahrhundert zerfiel. Weite Gebiete der ehemaligen Kiewer Rus gelangten unter den Einfluss von Polen-Litauen, das zur Absicherung der Außengrenzen im Süden freie Wehrbauern ansiedelte: die Kosaken.
Lyrische Balladen und artistischer Tanz
Die zahlreichen Kosakenlieder, in denen ihre Taten gerühmt werden, zeugen von der Bedeutung dieser Freischärler für das ukrainische Selbstverständnis. Sie wurden zumeist von fahrenden, oft blinden Musikanten geschrieben und vorgetragen, den Kobzary. Ihre langen lyrischen Balladen, die Dumy, spielten sie auf der Bandura, einem zitherähnlichen Instrument, das wie eine Harfe gezupft wird. Dabei bedienten sie sich der sogenannten "ukrainischen Moll-Skala", die auch in der Klezmer-Musik Verwendung findet. Von den Kosaken stammt auch der Kasatschok, ein artistischer Tanz, bei dem aus der Hocke gesprungen und abwechselnd das linke und das rechte Bein gestreckt wird.
Volkstradition in Musik fest verankert
Die ukrainische Volksmusik zeichnet sich durch ihre Heterophonie aus. Dabei wird die Melodie von mehreren Stimmen gleichzeitig ausgeführt, aber von jeder Stimme unterschiedlich verziert, was ihr eine leicht orientalische Anmutung verleiht. Das traditionelle Musiktrio, die Troyista muzyka, das bei Festen und Prozessionen aufspielt, besteht aus Cymbaly (eine Art Hackbrett), Sopilka (Schnabelflöte) und Geige. Song-Contest-Fans bestens bekannt dürfte die Trembita sein, das ukrainische Alphorn, das bei den "Wild Dances" von Ruslana zum Einsatz kam. Es wird bei den Huzulen gespielt, einem Volksstamm in den ukrainischen Karpaten, und dient der Kommunikation von Berg zu Berg.
Zerstörung musikalischer Entwicklung
Im 20. Jahrhundert wurde die Ukraine Schauplatz millionenfachen nationalsozialistischen und stalinistischen Völkermords, was sich natürlich auch auf die musikalische Entwicklung auswirkte. Viele Kobzary wurden Opfer der stalinistischen Säuberungen, da die Bandura als Symbol ursprünglicher ukrainischer Kultur unerwünscht war. Aber auch die Vernichtung von Juden, Sinti und Roma zerstörte musikalische Traditionen, die die ukrainische Musik über viele Jahrhunderte befruchtet hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verliefen die Entwicklungen in der Sozialistischen Sowjetrepublik Ukraine dann weitgehend parallel zu Russland.
Radioquote für ukrainische Musik
Eine eigenständige ukrainische Pop- und Rockmusik entwickelte sich erst ab den späten 1980er-Jahren. Eine wichtige Rolle als Talentschmiede spielte dabei das alle zwei Jahre stattfindende Tscherwona-Ruta-Festival, das 1989 erstmals ausgerichtet wurde und Künstler in verschiedenen Genres auszeichnet. Hier sammelten Stars wie Ani Lorak oder Ruslana Bühnenerfahrung. Mittlerweile bietet die heimische Musikszene Rock, Pop und elektronische Musik in vielfältigen Variationen und natürlich in ukrainischer Sprache. Nach der russischen Annektierung der Krim wurde eine Quote eingeführt, die den Anteil ukrainischer Musik im Radio von 3,4 Prozent im Jahr 2012 auf heute 40 Prozent angehoben hat, wovon vor allem die junge Musikszene profitiert. Dabei legen Bands wie Go-A oder Kalush Orchestra großen Wert darauf, moderne Sounds mit traditionellen Motiven und Klängen zu kombinieren, um sich klar von russischer Musik abzugrenzen, die seit dem Krieg in der Ukraine nicht mehr gespielt werden darf.
Ukraine und der ESC
Wegen des russischen Angriffskrieges findet der Eurovision Song Contest 2023 zwar nicht in der Ukraine statt - das Land ist aber dem seinem Sieg 2022 aber Co-Gastgeber in Großbritannien (UK). Die ESC-Geschichte der Ukraine ist noch nicht lang, aber sehr erfolgreich. Kein anderes Land hat eine Qualifikationsquote von 100 Prozent in den Halbfinals. Das bedeutet: Abseits der Big 5 wissen nur die ukrainischen Fans gar nicht, wie es sich anfühlt, wenn ihr Land im Halbfinale ausscheidet. Im Jahr 2003 hat die Ukraine erstmals am ESC teilgenommen, feiert also im kommenden Jahr ihr 20-jähriges Jubiläum. Drei ESC-Siege und drei weitere Podestplätze hat das Land vorzuweisen.