Stand: 14.05.2008 18:50 Uhr

"Wir können auch ohne Bauchtanz" - Mor ve Ötesi im Interview

von Dr. Irving Wolther

Die Rockband Mor ve Ötesi passt so gar nicht in das Bild, das in Deutschland von türkischer Musik existiert. Mit ihrem Titel "Deli" (Verrückt) kritisiert sie das Herden-Denken vieler Menschen. Eurovision.de hat Leadsänger Harun Tekin und Drummer Kerem Kabadayı interviewt.

eurovision.de: In den letzten Jahren hat die Türkei in ihren Beiträgen erfolgreich mit dem orientalischen Klischee von 1001 Nacht gespielt. Repräsentieren Mor ve Ötesi eine neue, andere Türkei?

Der Sänger der türkischen Band Mor ve Ötesi © EBU
Harun Tekin: "In Istanbul können Sie alles finden, was Sie auch in Europa finden."

Harun Tekin: Wir repräsentieren einen Teil der echten Türkei. Wir leben in Istanbul. In Istanbul können Sie alles finden, was Sie auch in Europa finden. Das orientalische Image entspricht oft nicht der Realität. Wir haben zum Beispiel eine sehr große Rock- und HipHop-Szene. Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren auch einen HipHop-Titel aus der Türkei beim ESC sehen werden, denn die Menschen in der Türkei lieben den ESC und wollen jedes Jahr etwas Interessantes schicken.

Kerem Kabadayı: Wir glauben, dass viele Verbindungen zu Europa bestehen. Vielleicht zeigt die populäre Kultur in der Türkei ein anderes Bild. Fatih Akin zeigt in seinem Film "Crossing The Bridge" auch eher die orientalische Seite. Wir sind Teil einer anderen Szene. Es gibt in der Türkei viele Leute wie uns, und unsere Teilnahme am ESC bestätigt das. Wir können auch ohne Bauchtanz.

eurovision.de: Sie singen in Ihrem Lied, dass Sie verrückt sind. Es heißt, Verrückte sagen immer die Wahrheit. Welche Wahrheit sagen Sie den Leuten?

Harun Tekin: Wenn man die Wahrheit sagt, besteht die Gefahr, dass man als verrückt bezeichnet wird - weil die Menschen die Wahrheit nicht hören wollen. Es geht auch um das Recht, in einer Gesellschaft man selbst sein zu können.

eurovision.de: Die EBU betont, dass der Eurovision Song Contest kein politischer Wettbewerb ist. Ist "Deli" denn ein völlig unpolitischer Song?

Harun Tekin: Der Titel hat schon einen politischen Sinn, auch wenn er keine konkrete politische Botschaft enthält. Er wirft Fragen auf, über die man diskutieren kann, zum Beispiel zum Thema Nationalität. Wer eine Person verrückt nennt, ist vielleicht in der Mehrheit, ist vielleicht normal, vielleicht ist die Mehrheit aber auch verrückt. In diesem Sinne ist das Lied auch ironisch gemeint.

Kerem Kabadayı: Wir glauben, dass die politische Situation in diesem Jahr in vielen Teilen der Welt eine problematische Wendung nimmt. Und wir sind der Überzeugung, dass Wahrheit Frieden, Freiheit und Gleichheit bedeutet. Wenn diese universellen Werte nicht genügend geachtet werden, bringt das schwerwiegende Probleme mit sich. Wir sollten jede Art kultureller oder auch sonstiger Veranstaltung zum Anlass nehmen, diese Werte stärker zu vertreten. Eine Veranstaltung wie der ESC besitzt daher schon deshalb politische Relevanz, weil er Menschen unterschiedlicher Kulturen die Möglichkeit zum Dialog gibt.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 24.05.2008 | 21:00 Uhr

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