ESC 2023: Warum Deutschland so wenig Punkte bekommen hat
Jahr für Jahr sorgt die Punktevergabe nach dem ESC für hitzige Diskussionen. Unser "Dr. Eurovision" Irving Wolther erklärt das System aus Jury- und Publikumsvoting - und hat sogar ein paar Trostpflaster dabei.
Katerstimmung in deutschen Wohnzimmern: Beim Eurovision Song Contest haben wir schon wieder die rote Laterne. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Und überhaupt, was ist das eigentlich für ein seltsames Wertungssystem?
Die traurige Erkenntnis vorweg: Egal, wie man es dreht und wendet - weder mit, noch ohne Jurys hätten Lord Of The Lost (LOTL) den 67. Eurovision Song Contest in Liverpool gewonnen. Sowohl die Fachleute als auch die Zuschauerinnen und Zuschauer hatten am vergangenen Samstag andere Favoriten. Und wenn 26 Länder an einem Wettbewerb teilnehmen, muss es nun einmal auch jemanden geben, der die unteren Tabellenplätze belegt. Das bedeutet allerdings nicht, dass niemand den Song gut gefunden hätte. In Island und Tschechien kamen LOTL knapp in die Top Ten der Jurywertung. In Finnland, Österreich und der Schweiz lag "Blood & Glitter" in der Zuschauergunst sogar recht weit oben. Unsere Nachbarn und Metal-Freude im Geiste haben also ordentlich Schützenhilfe geleistet.
Demokratisches Abstimmungsverfahren beim ESC
Nun ist das Abstimmungsverfahren beim ESC ausgesprochen demokratisch. Jedes Land, egal wie groß oder klein es sein mag, hat das gleiche Gewicht. Will heißen: Nur weil Deutschland viele Einwohner hat, besitzen wir nicht mehr Einfluss auf das Ergebnis als beispielsweise die Schweiz. Gleiches gilt für die Jurys, die in jedem Land aus fünf Personen bestehen und häufig auf die Expertise ehemaliger ESC-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer zurückgreifen. So saßen in der deutschen Jury beispielsweise Katja Ebstein, in der belgischen Jury Sennek, in der georgischen Jury Sopho Khalvashi, in der rumänischen Jury Monica Anghel und in der irischen Jury die letztjährige Teilnehmerin Brooke. Grundsätzlich ist das ein faires und ausgewogenes Modell, denn die Jurys sollen die Beiträge konzentriert bewerten, während das Publikum ganz nach Bauchgefühl abstimmen darf.
Verdacht: Gab es einmütige Juryentscheidung?
Allerdings hatten sich im vergangenen Jahr einige Länder darauf verständigt, ihre Jurywertung im Halbfinale zu manipulieren, um sich gegenseitig den Sprung ins Halbfinale zu ermöglichen. Die European Broadcasting Union (EBU) hatte diese Absprache frühzeitig aufgedeckt und in diesem Jahr in den Semis ganz auf die Jury verzichtet, damit sich so etwas nicht wiederholt. Im Finale allerdings macht der Juryentscheid einen wesentlichen Teil des Spannungsbogens aus, weshalb man hier so schnell nicht auf die Expertenmeinung verzichten wird. Allerdings verwunderte die Einmütigkeit, mit der die Jurorinnen und Juroren sich in diesem Jahr auf den schwedischen Beitrag eingeschossen haben, hierzulande viele Zuschauerinnen und Zuschauer sowie Fans.
Abweichendes Zuschauervoting für Loreen
Vielleicht ist die Unzufriedenheit mit dem Endergebnis und Siegerin Loreen in Deutschland so stark ausgeprägt, weil hier Jury- und Zuschauermeinung besonders stark auseinanderklaffen: Zwölf Punkte für "Tattoo" bei den Jurys, nur ein Punkt vom Publikum. Das finnische Publikum hatte für den schwedischen Siegersong sogar noch weniger übrig, nämlich gar nichts, denn Schweden rangierte dort nur auf Platz 13.
In Deutschland taten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer beispielsweise mit dem spanischen Beitrag schwer, der beim Televoting hierzulande den letzten Platz belegte. Ist das schon eine Bekundung, dass die Deutschen die Spanier nicht mögen? Eher nicht. Fakt ist auch: Loreen ist die erste ESC-Gewinnerin, die aus keinem einzigen Land zwölf Punkte im Televoting erhalten hat.
Lord Of The Lost gar nicht so unbeliebt
Wirft man einen näheren Blick auf die Televoting-Rangfolgen der einzelnen Länder, stellt man fest, dass Deutschland - wie auch schon öfter in der Vergangenheit - beim Publikum gar nicht so unbeliebt war. In Australien und Rumänien sind LOTL sogar relativ knapp an einem Punkt vorbeigeschrammt. Am Endergebnis hätten diese Punkte allerdings nicht viel geändert, denn in den meisten anderen Ländern war der deutsche Beitrag bei den Zuschauern weit abgeschlagen. Selbst bei einem anderen Wertungssystem, das die gesamte Rangfolge berücksichtigt, wäre für Deutschland kein Ergebnis herausgekommen, das uns hierzulande auch nur annähernd freudvoll gestimmt hätte.
Land | Rang des deutschen Beitrags |
---|---|
Albanien | 22 |
Armenien | 17 |
Aserbaidschan | 18 |
Australien | 11 |
Belgien | 23 |
Dänemark | 20 |
Estland | 17 |
Finnland | 6 |
Frankreich | 14 |
Georgien | 16 |
Griechenland | 16 |
Irland | 19 |
Island | 16 |
Israel | 17 |
Italien | 14 |
Kroatien | 17 |
Lettland | 12 |
Litauen | 15 |
Malta | 16 |
Moldau | 20 |
Niederlande | 17 |
Norwegen | 17 |
Österreich | 5 |
Polen | 16 |
Portugal | 13 |
Rest of the World | Nicht in den Top 10 |
Rumänien | 11 |
San Marino | 20 |
Schweden | 20 |
Schweiz | 7 |
Serbien | 17 |
Slowenien | 18 |
Spanien | 14 |
Tschechien | 12 |
Ukraine | 15 |
Vereinigtes Königreich | 15 |
Zypern | 18 |
Juryzusammensetzung nicht repräsentativ
Was nicht heißen soll, dass es an dem aktuellen Wertungssystem nichts zu verbessern gäbe. Denn warum wurde schon im Vorfeld des ESC darüber diskutiert, dass Deutschland von den Jurys wohl keine Punkte zu erwarten habe? Gut gemachter Metal dürfte bei Fachleuten nicht zwangsläufig schlechtere Karten haben als gut gemachter Mainstream-Pop. Insofern scheint ein wichtiger Faktor in der Zusammensetzung der Jurys zu liegen, die im Hinblick auf die demografische Struktur ihrer Länder oft nicht repräsentativ sind. Aber auch dann gäbe es keine Garantie für Punkte an Deutschland, denn die Zahlen des Televotings spiegeln ja die Stimmung in den einzelnen Ländern am treffendsten wider.
ESC 2024: Neues Spiel, neues Glück
Bei der Bewertung der Beiträge müssen die Jurorinnen und Juroren die Komposition und Originalität des Songs berücksichtigen, die Bühnenperformance, die gesanglichen Leistungen und schließlich den Gesamteindruck. In einer Show, die vor Überraschungsmomenten nur so sprühte, konnten die Kostüme und Pyro-Effekte von Lord Of The Lost offenbar nicht genügend Aufmerksamkeit auf sich ziehen, um die Gesangs- und Performance-Komponente wirklich zum Tragen zu bringen. Das macht aus LOTL keine schlechte Band und für ihren Auftritt gebührt ihnen der größte Respekt.
Und dass ein letzter Platz beim ESC nichts über den kommerziellen Erfolg eines Beitrags sagt, wissen wir spätestens seit Malik Harris im vergangenen Jahr. Eines ist allerdings klar: 2024 haben wir eine neue Chance auf den ESC-Sieg. Ergreifen wir sie!