EBU-Absage an Selenskyj beim ESC: "Kein Skandal"
Die European Broadcasting Union (EBU) hat den Wunsch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj zurückgewiesen, beim ESC-Finale in Liverpool eine Grußbotschaft zu sprechen. Dr. Irving Wolther kommentiert die Entscheidung der ESC-Verantwortlichen.
Die Nachricht spricht sich gerade wie ein Lauffeuer herum: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj darf beim Eurovision Song Contest, der in Liverpool stellvertretend für die im Krieg befindliche Ukraine ausgerichtet wird, keine Grußbotschaft an die Zuschauerinnen und Zuschauer richten. Der Präsident wollte das Grußwort nach Auskunft der Times dazu nutzen, um zu weiterer Unterstützung für die Ukraine aufzurufen. Die EBU bestätigte in einem Statement, dem Wunsch des Staatsoberhaupts nicht nachzukommen - und verweist auf den unpolitischen Charakter der Veranstaltung.
Appell durch die Blume
Nun kann man sich zurecht fragen, inwiefern ein Grußwort des Präsidenten im diesjährigen, hochpolitisierten ESC-Kontext den Kohl noch fett machen würde: Die BBC und der ukrainische öffentlich-rechtliche Sender Suspilne haben eine Show auf die Beine gestellt, die keinen Zweifel daran lässt, dass die Vorjahressieger auch die Gastgeber sind - nur eben auf englischem Boden. Trotz der Belastungen durch den russischen Angriffskrieg hätte die Ukraineniemals darauf verzichten wollen, diese wichtige Gelegenheit zu nutzen, sich auf europäischer Bühne zu präsentieren - und durch die Blume an die Solidarität der Weltgemeinschaft zu appellieren.
Britische Gastgeber als Multiplikatoren
Oksana Skybinska, Delegationsleiterin und Projektleiterin für den ukrainischen Part des Wettbewerbs in Liverpool, machte dies auch im Rahmen eines Talks im Rahmen der Eurovisions International Conference in Liverpool deutlich: "Der ESC ist eine wichtige internationale Plattform, wo die Stimmen der Ukraine Gehör finden können. Und es ist wichtig, gehört zu werden und die Botschaft auszusenden, dass wir Teil der europäischen Familie sind. Denn nur gemeinsam sind wir stark und in der Lage, das Böse zu bekämpfen." Die Aufmerksamkeit, die durch die britischen Gastgeber nun zusätzlich auf den Song Contest und die dort vorgestellten ukrainischen Bildwelten gelenkt wird, multipliziert diese Bedeutung als mediale Plattform zusätzlich.
Präzedenzfall Juschtschenko
Alles in allem transportiert der ESC in Liverpool deutlich mehr politische Inhalte als jeder seiner Vorgänger. Dass die EBU sich nun gegen ein zusätzliches Grußwort des ukrainischen Präsidenten entschieden hat, ist daher als eine Art Notbremsung zu verstehen, damit der eurovisionäre Dampfer keine Schlagseite bekommt. Ein Auftritt Selenskyjs mit eindeutig politischem Charakter in einer Unterhaltungssendung wie dem ESC, hätte gravierende Konsequenzen für künftige Wettbewerbe, denn dann wären der politischen Instrumentalisierung keine Grenzen mehr gesetzt. Schon der Auftritt des damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko beim ESC 2005 in Kiew, als dieser der Siegerin Helena Paparizou einen Sonderpreis der ukrainischen Regierung überreichte, war ein Präzedenzfall, der den Wettbewerb unangemessen politisierte.
ESC als Botschafter europäischer Werte
Wer nun allerdings den großen Skandal wittert, wird enttäuscht: Zwar dürften bei der EBU aktuell einige Krisensitzungen geführt werden, doch es ist keinesfalls die Ausnahme, dass Anfragen des ukrainischen Präsidenten nach Sendezeit im Rahmen internationaler Veranstaltungen wie Sportereignissen zurückgewiesen werden. Schon beim vergangenen Sanremo-Festival sorgten Selenskyjs Auftrittspläne für heftige Diskussionen. Am Ende wurde nur eine kurze Botschaft von Moderator Amadeus verlesen. So nachvollziehbar die Enttäuschung der ukrainischen Seite über die Ablehnung der EBU also sein mag, sie ist kein Skandal. Sie ist eine konsequente Entscheidung, um den ESC als Botschafter europäischer Werte auch in Zukunft glaubwürdig zu halten.
Dass sich nun auch der britische Premierminister Rishi Sunak eingeschaltet hat und ein Grußwort Selenskyjs für angemessen hält, ist nur einer von vielen Affronts gegen die BBC, die wegen ihrer kritischen Berichterstattung von der regierenden Tory-Partei bei jeder Gelegenheit unter Beschuss genommen wird. Ein Grund mehr, sich dem Diktat der Politik nicht zu beugen, denn der Eurovision Song Contest gehört weder dem Gastgeber noch dessen Stellvertreter - er gehört allen!