ESC verbindet Großbritannien und Ukraine kulturell
Vom 1. bis 14. Mai steht Liverpool ganz im Zeichen des Eurovision Song Contest 2023. Dass Großbritannien den Wettbewerb für die Ukraine ausrichtet, macht den Song Contest zu einem Instrument für kulturelle Diplomatie.
Kurz nachdem das Kalush Orchestra im vergangenen Mai als Sieger des 66. Eurovision Song Contests in Turin feststand und sich herauskristallisierte, dass eine Ausrichtung des Wettbewerbs in der Ukraine aus Sicherheitsgründen nicht in Frage kam, liefen die Verhandlungen um die stellvertretende Gastgeberschaft bereits auf höchster diplomatischer Ebene. Am 25. Juli 2023 erklärte der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson schließlich in einem Tweet:
"Letzte Woche haben Präsident Selenskyj und ich vereinbart, dass der ESC 2023, wo auch immer er stattfindet, das Land und die Menschen in der Ukraine feiern muss. Da wir nun Gastgeber sind, wird das Vereinigte Königreich dieses Versprechen direkt einlösen - und im Namen unserer ukrainischen Freunde einen fantastischen Wettbewerb veranstalten."
Beweis für britische Verlässlichkeit
Spätestens ab diesem Zeitpunkt war der Eurovision Song Contest nicht mehr länger eine Unterhaltungssendung, die der öffentlich-rechtlichen Fernsehzusammenarbeit in Europa dient, sondern ein Instrument der kulturellen Diplomatie. Mit ihrer Zusage, den ESC stellvertretend für die Ukraine auszurichten und dafür auch entsprechende Finanzmittel bereitzustellen, bewies die britische Regierung, dass das Vereinigte Königreich trotz Brexit, Regierungskrisen und schlingernder Wirtschaft ein zuverlässiger Partner im internationalen Mächtekonzert ist, der an der Seite der Ukraine für die Werte der westlichen Welt einsteht.
"Realität der heutigen Ukraine widerspiegeln"
Mittlerweile laufen die Vorbereitungen für den Song Contest auf Hochtouren und Ende März wurden die Details des umfangreichen Rahmenprogramms bekanntgegeben. Doch der Weg dahin war kein Spaziergang. So berichtet Volodymyr Sheiko, Generaldirektor des Ukrainian Institute (einer Einrichtung, die sich, vergleichbar mit dem deutschen Goethe-Institut, um die ukrainische Kultur in der Welt bemüht). Dabei spielte die Tatsache, dass der Wettbewerb stellvertretend für ein Land ausgerichtet wird, das sich im Krieg befindet, eine zentrale Rolle:
"Das Ukrainian Institute hat die Initiativen des britischen Ministeriums für Digitales, Kultur, Medien und Sport, der Stadtverwaltung von Liverpool und des ESC-Teams gemeinsam mit dem British Council schon früh begleitet, um sicherzustellen, dass die Stimme der Ukraine im Auswahlprozess ein starkes Gewicht bekommt. Das gesamte Kulturprogramm, alle Veranstaltungen, alle Feierlichkeiten und alle Verlautbarungen zum ESC müssen die Realität der heutigen Ukraine widerspiegeln." Volodymyr Sheiko, Generaldirektor Ukrainian Institute
ESC ist Forschungsobjekt zu politischer Wahrnehmung
Dass dies eine Herausforderung darstellt, räumt auch Martin Green, Managing Director des Eurovision Song Contest 2023, ein. Auf einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Global Soft Power Summit 2023 erklärte er am 2. März: "Bei einem Mega-Event handelt es sich in der Regel um eine einzige Übung in Nabelschau. Warum sollte man in so etwas investieren, wenn man nicht die ganze Zeit über sich selbst spricht?" Tatsächlich hat das British Council im Zusammenhang mit der britischen Gastgeberschaft ein Forschungsprojekt ausgeschrieben, mit dem der Einfluss des Eurovision Song Contests in Liverpool als sogenannte Soft Power ermittelt werden soll, also inwiefern über die Zurschaustellung kultureller Attraktivität eine Einflussnahme auf die politische Wahrnehmung des Vereinigten Königreichs und der Ukraine möglich ist.
Dankbar für ukrainische Ratschläge
Dass Liverpool den Zuschlag als Ausrichterstadt des ESC bekommen hat, dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass die Ukraine als Gewinner des vergangenen Wettbewerbs in Turin und "heimlicher Gastgeber" stets mitgedacht wurde. Martin Green lobt dabei die Zusammenarbeit mit den ukrainischen Partnern, um peinlichen (und womöglich auch diplomatischen) Fettnäpfchen aus dem Weg zu gehen:
"Ich bin sehr dankbar für die Ratschläge, die wir im Zuge der Entwicklung des Song Contests von unseren ukrainischen Kollegen immer wieder erhalten haben, denn es ist verblüffend, wie viele Details mit russischer Kultur in Verbindung gebracht werden können. Wir waren dafür sensibel und ich habe sehr viel dazugelernt." Martin Green, Managing Director Eurovision Song Contest 2023
Nachhaltiger Nutzen des ESC für Liverpool
Kevin McManus, sonst verantwortlich für die UNESCO City of Music Liverpool und direkter Ansprechpartner für alle Musikschaffenden vor Ort, war von Anfang an Teil des Bewerbungsprozesses seiner Heimatstadt:
"Ich konzentriere mich auf das, was vom ESC am Ende übrigbleibt, damit der ganze Aufwand der vergangenen Monate am 14. Mai nicht schon wieder Vergangenheit ist, sondern wir nachhaltig Nutzen daraus ziehen können." Kevin McManus, Verantwortlicher UNESCO City of Music Liverpool
Das geschieht gleich auf dreierlei Weise: Mit dem EuroFest, das vom 1. bis 14. Mai eine Vielzahl kultureller Veranstaltungen in der ganzen Stadt vorsieht, dem Bildungsprogramm EuroLearn, das den ESC-Spirit in Schulen und andere Bildungseinrichtungen tragen soll, und dem partizipativen Programm EuroStreet, mit dem sichergestellt werden soll, dass jede und jeder sich in irgendeiner Form an dem Event beteiligen kann.
Eurovision in jedem Winkel
Dafür werden im Rahmen des EuroGrant unter anderem vom National Heritage Lottery Fund umfangreiche Summen bereitgestellt, um sogenannte Graswurzelprojekte zu fördern - also Ideen, die von normalen Bürgerinnen und Bürgern an die Veranstalter herangetragen werden. Diese werden jeweils mit bis zu 2.000 Pfund unterstützt. Neben den bislang feststehenden Programmhighlights werden bis Mai jede Menge weiterer Initiativen die ganze Stadt und das Umland von Liverpool zu einem wahren Eurovision-Wonderland machen. Darunter 19 Kooperationen zwischen britischen und ukrainischen Künstlern und Kollektiven, aber auch so herzergreifende Projekte wie "Songs for Europe", mit denen ESC-Stimmung in die Altenheime zu Seniorinnen und Senioren gebracht wird, die selbst nicht mehr mobil sind. Welche Früchte all diese Mühen in (kultur‑)politischer Hinsicht tragen - sei es für die Ukraine oder für das Vereinigte Königreich - wissen wir erst nach dem ESC. Für die Menschen vor Ort sind sie schon jetzt ein Segen.