1968: Favorit Cliff Richard scheitert in London
War das nicht sonnenklar: Wer, wenn nicht er? Die BBC und die gesamte britische Popindustrie hatten den Eurovision Song Contest des Jahres 1968 in London als "Projekt Titelverteidigung" angelegt. Es galt, ein weiteres Popprodukt des Landes auch auf dem Kontinent zu popularisieren: Cliff Richard, solistisch und mit seiner Band, den Shadows, ein Star. Sandie Shaw hatte im Jahr zuvor den ESC in der Wiener Hofburg gewonnen, nun sollte das Eurovisionsfestival in der wichtigsten Arena Londons ausgetragen werden, in der Royal Albert Hall. Und zwar am 6. April 1968.
Das Lied von Cliff Richard, "Congratulations", galt in den Wettbüros als der sicherste Siegesact der gesamten, wenn auch jungen ESC-Geschichte. Das Lied hatte Schwung, wirkte erfrischend und mitreißend - und die Einschätzungen haben ja bis heute Bestand: "Congratulations" ist ein Evergreen des Pop - bis heute. Doch es sollte anders kommen: Die unbekannte Spanierin Massiel verwies den Favoriten mit "La La La" auf Platz zwei.
Isabelle Aubret unter den Mitfavoriten
Andere Länder hatten andere Stars geschickt, Jugoslawien Dubrovački Trubadori mit "Jedan dan", eine erstaunliche Balkan-Nummer im Hippie-Stil; Portugals Carlos Mendes und sein "Verão" waren auch nicht ohne Hoffnung nach England geflogen, Frankreichs Isabelle Aubret, ESC-Siegerin von 1962 mit "Un premier amour", kam mit dem bezaubernden Lied "La source", Deutschland hingegen schickte ohne Vorentscheidung die höchst populäre Norwegerin Wencke Myhre mit "Ein Hoch der Liebe", auch nicht gerade jenseits aller Geschmäcker.
Spanien hingegen hatte ein chaotisches Nominierungsverfahren hinter sich. Ursprünglich sollte Manuel Serrat singen, und zwar "La La La". Dies wollte er auf Katalanisch tun, nur war diese rund um Barcelona gesprochene Sprache im Spanien des Diktators Francisco Franco verboten. Serrat blieb stur und wurde vom ESC zurückgezogen. Statt seiner kam eine spanische Sängerin namens Massiel - die ihr Glück gar nicht fassen konnte: Der ESC war ja für Sänger mit internationalem Anspruch die prominenteste Bühne, immerhin guckten Millionen Menschen zu.
"La La La" wird für Massiel zum hymnischen Popsong
Für Massiel wurde in "La La La" alles, was an den Liedermacher erinnerte, getilgt. Das Lied, das in London zur Aufführung kommen sollte, wurde vom deutschen Bandleader und Arrangeur Bert Kaempfert tüchtig aufgefönt. So klang der Song plötzlich wie eine Hymne des Easy Listening - mit starkem, aber verhaltenem Auftakt und häufig wiederholtem Refrain einschließlich eines Schlusses, wie ihn ESC-Fans seit jeher lieben: festlich, ausgeschmückt und das Motiv hymnisch zum Finale bringend.
Aber, dennoch: Wer, wenn nicht Cliff Richard? Die Show wird erstmals in Farbe - wenn auch nachkoloriert, live klappte die Einfärbung noch nicht, übertragen. Der Wettbewerb lebte von einer wahnsinnig guten Publikumsstimmung in der Royal Albert Hall - es waren Festspiele für den eigenen Kandidaten, Cliff Richard eben. Und doch kam es anders. Nach 15 der 17 Wertungsdurchgänge - alle Länder hatten zehn Juroren, die über je eine Stimme verfügten - lag Großbritannien mit 26 Stimmen vorn, Spanien hatte nur 23 Stimmen, Frankreichs Isabelle Aubret lag auf dem dritten Platz mit 20 Zählern. Und dann kam die deutsche Wertung aus Frankfurt am Main. Hans-Otto Grünefeld, Unterhaltungschef beim Hessischen Rundfunk, gab dem Briten zwei Punkte - aber der Spanierin gleich unfassbar viele Punkte, nämlich sechs: So lang sie plötzlich vorn.
Und dabei blieb es: Die Spanierin hatte gewonnen - der Beifall in der Halle fiel, nun ja, eher mäßig aus.
Alles nur Mogelei und Schiebung?
Hinterher kamen Gerüchte in Umlauf, denen zufolge das spanische Fernsehen durch Europa getingelt war, um durch finanzielle Zuwendungen Punkte zu kaufen. Dieser Klatsch konnte, obwohl er in einer spanischen TV-Dokumentation seriös erörtert wurde, nie ganz aus der Welt geschafft werden. Wahr ist aber, dass Massiels "La La La" dem britischen "Congratulations" ästhetisch in nichts nachstand: Die Spanierin wirkte sogar ein bisschen glamouröser als britische Star.
Und Wencke Myhre? Trat mit ihrem "Ein Hoch der Liebe" in einem gelben Kleid auf, das jeden Kanarienvogel zu Ohnmachtsanfällen aus Neid bewogen hätte. Sie war gut und schlicht, optimistisch gestimmt und auf Myhre-Art sehr beschwingt wirkend - erhielt elf Jurystimmen und fand sich auf dem ziemlich guten sechsten Platz wieder.
Kein ESC-Jahrgang zwischen 1956 und Ende der 60er-Jahre hat in der Erinnerung sehr vieler Leute so starke Kraft. Cliff Richard hat der ESC motiviert - er würde wiederkommen, und das war dann auch 1973 der Fall. Massiel beklagte sich jüngst, dieser Sieg habe ihre Karriere zerstört. Nun, das darf man verstörend nennen: Sie siegt - und fühlt sich ruiniert? Der ESC - er war schon immer auch bizarr!