Ein schwedisches Missverständnis
Gewöhnlich hämen Blätter wie die "Süddeutsche Zeitung" über den ESC, vorige Woche aber erschien ein interessantes Gespräch in dieser Zeitung mit dem schwedischen ESC- und Melodifestival-Verantwortlichen Christer Björkman, Titel: "Darum geht es eigentlich: um Stolz".
Er sagt viel Freundliches in dem Interview, auch über Jamie-Lee. Dann aber wird er resolut. Zum Hintergrund: Björkman, bis in die frühen 90er-Jahre ein Mann der dritten Reihe im schwedischen Popgeschäft, schaffte 1992 als Sänger mit "I morgon är en annan dag" die Qualifikation beim schwedischen Vorentscheid Melodifestival. Beim ESC in Malmö landete er mit diesem schönen Lied aber auf einem der letzten Plätze. Das Melodifestival war damals noch eines der alten Art - nur eine Show. Und es war eine ästhetische Ausrichtung, die noch wesentlich von den Mustern des Schlagers lebte: Im Zweifelsfall waren die Lieder sentimental oder zum Mitschunkeln. Zeitgenössische Popkünstler mieden den ESC eher.
Das hat sich geändert - mit Christer Björkman. 2002 änderte er das klassische Melodifestival-Format. Der schwedische Boss der eurovisionären Belange in seinem Land sagte in dem Gespräch mit Silke Bigalke von der "Süddeutschen Zeitung" mit Blick auf Deutschland: "Das Publikum weiß gerne, was kommt. Kontinuität. So schafft man eine Bindung zwischen Zuschauern, Musikindustrie und TV-Sender. Ein Grund dafür, dass wir so ein großes Publikum beim Melodifestival haben, ist Konstanz. Wir haben dasselbe Modell seit 54 Jahren. Früher war es ein Abend mit zehn, zwölf Songs und der Sieger fuhr zum Grand Prix. Seit 2002 haben wir sechs Abende: vier Vorentscheide mit je acht Liedern, einen Abend der 'Zweiten Chance' und das Finale. So lernt das Publikum die Songs während der Shows besser kennen. Sie laufen im Radio und jeder hat schon vor dem Finale einen Favoriten."
Die Big Five und ihre Nöte
Sätze, die als Empfehlung gelesen werden sollen: Björkman empfiehlt der ARD ein Melodifestival nach schwedischem Muster. Bei näherem Blick allerdings erweist sich dieser Ratschlag, es doch in Sachen ESC-Vorentscheid anders, schwedischer zu halten, als Missverständnis. Schärfer gesagt: als arm an Ahnung.
In den Big-Five-Ländern - Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Deutschland - sind die Märkte für die Popindustrie so groß, dass die Plattenfirmen und Künstler einen Eurovision Song Contest definitiv nicht nötig haben, um sich ein größeres Publikum zu erschließen. Um im eigenen Lande zu bleiben: Einer Nena war es immer einerlei, ob sie über Deutschland hinaus berühmt wird. Das gilt erst recht für Helene Fischer in heutigen Tagen: Ihre Popularität in Deutschland ist so stark, dass sie diese einbüßen würde, würde sie sich über die eigenen Markt- und Landesgrenzen hinaus orientieren.
In Schweden lagen und liegen die Dinge anders. Es ist, musikindustriell betrachtet, ein kleines Land mit neun Millionen Einwohnern. Der ESC als TV-Format war für alle Künstler und Künstlerinnen eine notwendige und wichtige Plattform, um sich über die eigenen Grenzen hinaus zu empfehlen. Die später berühmte Band Abba wurde von deren Manager Stikkan Andersson gezielt zum ESC gebracht, um sie von dort aus in Mitteleuropa, vor allem in Großbritannien, dem damaligen Kernland der Popindustrie, bekannt zu machen. Abbas Kalkül ging auf. Schwedens Komponisten, Texter, Arrangeure und Pop-Acts realisierten, dass der ESC eine Berühmtheitsermöglichungsmaschine sein kann. Alle kleinen Länder verstanden den ESC auch so: eine Show, die in den dominierenden Ländern Europas Bekanntheit verschafft.
Pop-Exportland Schweden
Schweden hat diese Einsicht zum wichtigsten Popexportland jenseits der Big Five gemacht: Viele Komponisten und Texter aus Schweden arbeiten für andere ESC-Länder. Christer Björkman sagt zutreffend: "Aber sie [die schwedischen Komponisten- und Texter-Teams, Anm. d.Red.] sind auch ziemlich gut darin, sich zu verstellen, wie Chamäleons. Wenn ihnen jemand sagt: Schreibt einen Song für Spanien, werden sie versuchen, Spanien irgendwie zu kopieren, aber auf schwedische Art. Überhaupt: Was ist ein schwedischer Song? Früher hat man gesagt: Ihr schickt immer diese Abba-ähnlichen-Songs. Das war unsere Art von Schlager, funktioniert überhaupt nicht mehr. Jetzt gibt es zeitgemäßen Pop."
An der Verabschiedung des Schlagers aus dem Angebotstableau hat Björkman wichtigen Anteil; er hat aus dem Melodifestival auch eine Plattform für Komponisten/Texter/Arrangeure gemacht, auf dass diese sich für Jobs und Aufgaben über Schweden hinaus empfehlen. Schlager ist eine Minderheitsvorliebe, selbst in Schweden ist diese Art von Musik kaum noch populär bei Menschen unter 50.
In Deutschland (und Frankreich, Spanien, Großbritannien und Italien) ist die Lage eine ganz andere. Für die Musikindustrie ist der ESC meist unwichtig. Weder bei der BBC in London noch bei der RAI in Italien klopfen junge Künstler und Künstlerinnen an die Tür, um beim ESC eine Chance zu erhalten. Immerhin: Deutsche Vorentscheide bieten gewöhnlich ein prominentes Feld an Kandidaten und Kandidatinnen - inklusive einiger Nachwuchshoffnungen.
One-Hit-Wonder Loreen
Es trifft ja in gewisser Weise zu, was Björkman zum ESC sagt: dass man dieses Festival in vielen, vor allem großen Ländern nicht als perfekte Bewerbungsbühne für höhere Popaufgaben sieht, "um neue, moderne Musik zu zeigen. Zum Beispiel Loreen, die Gewinnerin 2012: Sie war Nummer eins in 23 Ländern. War sie ein One-Hit-Wonder? Absolut. Aber besser ein One-Hit-Wonder als gar kein Wunder. Sehr wenige machen aus dem ESC eine internationale Karriere wie Abba oder Céline Dion, aber es ist möglich. Doch dafür muss man den Wettbewerb ernst nehmen."
Aber: Der ESC ist für die Musikindustrien der Big-Five-Länder kein zentrales Vermarktungsinstrument. Für alle gilt, die großen Namen nicht durch eine schlechte Platzierung zu beschädigen und starke junge Acts nicht zu "verbrennen". Das muss dem ESC-Fan nicht gefallen: Aber so liegen die Dinge nun einmal. Insofern irrt Christer Björkman, wenn er Deutschland eine Art "Melodifestival Made in Germany" zur Nachahmung empfiehlt: Was Schweden nötig hat, ist in den großen Ländern kein großes Versprechen.