Kommentar: So viele politische Reaktionen gab es nie
Kaum war der letzte Ton beim 61. ESC-Finale verklungen, hatten die Nachrichtenredaktionen überall in Europa viel zu tun. Denn die Nachricht, die sie aus Stockholm zu übermitteln hatte, war eine politische stärksten Kalibers: Die Ukrainerin Jamala hatte den Eurovision Song Contest gewonnen, und ihr russischer Rivale Sergey Lazarev landete zwei Plätze hinter ihr auf dem dritten Rang. Dass zwischen ihnen noch die Australierin Dami Im lag, spielte keine Rolle.
ESC spiegelt europäische Befindlichkeiten
Das Lied "1944" war ja auch dazu angetan, den ESC und seine Resultate als das zu nehmen, was er immer schon war: ein Spiegel europäischer Befindlichkeiten. Weil eben Juroren wie Zuschauer Gefühle haben, und zwar überall im eurovisionären Europa jeweils verschiedene, fließen in alle Wertungen auch immer Haltungen mit ein, die nicht allein der ästhetischen Güte eines Liedes gelten. Bei diesem Final-Ergebnis bot es sich quasi an, diese Show besonders politisch zu "lesen": Die Ukrainerin mit einem Lied im Elektropop-Sound, das von Vertreibung und Deportation der Krimtataren vor 72 Jahren durch die stalinistische Umsiedlungspolitik erzählt.
Top-Nachricht bei der Tagesschau
Keine Zeitung ließ sich online diesen Stoff entgehen. Der "Tagesschau" war die Nachricht die erste Stelle wert - sonst hat sie den ESC am Ende vor dem Sport und dem Wetter gewürdigt. Jetzt waren und sind alle Medien thematisch auf den ESC und sein Resultat gerichtet. Das erste Mal, nebenbei, dass die ARD über den ESC in ihrem Kernnachrichtenblock berichtete, war 2009 aus Moskau, als während des ESC eine kleine CSD-Parade paramilitärisch auseinandergetrieben wurde: der ESC als Brennglas Europas, durch das politische und kulturelle Konflikte kenntlich werden. In der "FAZ" schreibt Peter-Philipp Schmitt, Jamalas Triumph sei auch "Ein Sieg für die Krim", tagesschau.de schreibt vom "Triumph für die Ukraine", nur die "SZ", mit ihrem Medienbeobachter Hans Hoff, deliriert etwas vom "Dilettantenstadl". Nun gut, für Medien wie "Die Welt", "Deutschlandfunk"und andere seriöse Newsüberlieferer, etwa die osteuropäische Redaktion von "Deutsche Welle", war keine Zeit für derlei verranzte Kulturwahrnehmungen, stattdessen eine kluge Analyse des performativen Gehalts der Siegerin und ihres Liedes.
ESC in China, USA und Australien im TV zu sehen
Dass der ESC an einem Abend bis auf wenige Ausnahmen (Portugal, Slowakei, Rumänien oder die Türkei) alle Länder Europas (plus asiatische Anrainer und China, die USA und Australien ohnehin) miteinander in Kontakt bringt, ist natürlich für viele deutsche Beobachter nach wie vor unbegreiflich. Wundern sich darüber, dass keine Show kollektiv erinnerbar ist - und sehen nicht, dass dies beim ESC seit Ende der Fünfziger der Fall ist. Jamala aus der Ukraine, die bekundete, ihren russischen Kollegen Sergey Lazarev künstlerisch zu respektieren, hat gewonnen, weil ihr Lied der Common Sense Europas war und ist. Und weil offenbar die europäischen Solidaritätsgefühle für die Ukraine in diesem Lied erkannt worden sind, auch bei den russischen Televotern.
Nicht nur die deutschen Nachrichtensendungen haben darauf professionell und stark reagiert. Im Übrigen hat es ja immer politische Symbolisierungen gegeben beim ESC. Vor zwei Jahren mit Conchita Wurst als LGBTI*-Ikone etwa. Oder, noch historischer, 1956: Deutschland durfte mitmachen beim ersten ESC - und das war wirklich eine Friedensgeste, elf Jahre nach der Wehrmacht, elf Jahre nach dem Nationalsozialismus und dem Holocaust.
Jamala, das wird die nächste Nachricht in der Ukraine sein, ist eine Heldin Osteuropas, wie Ruslana, ESC-Siegerin von 2004 und Heldin der ukrainischen Aufstände gegen das korrupte politische Regime. Eine Wette: In fünf Jahren ist sie reif, mit einer Briefmarke gewürdigt zu werden.