Ein seltsamer Schlussakkord
Kulturpolitische Annoncen werden in Zeitungen selten geschaltet, schon gar nicht aus dem Bereich des Pop, der modernen Unterhaltungsmusik. Und das gilt auch für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ), wichtigstes Blatt der konservativen Publizistik in Deutschland. Beim Durchblättern des Feuilleton-Teils dieser Zeitung vom Samstag sprang einem auf Seite 13 allerdings eine ganzseitige Anzeige ins Auge, rot die obere Hälfte, mit der Überschrift: "Menschen für Xavier Naidoo".
Kein weiterer Text erläutert den Sinn des nichtredaktionellen Beitrags, dafür stehen unter der Überschrift die Namen von gut 120 Künstlern, Schauspielern und Managern. Auch die Grünen-Politikerin Antje Vollmer zählt zu der, nennen wir sie mal so: Initiative für Xavier Naidoo. Sie war einst Bundestagsvizepräsidentin und zählt im Spektrum ihrer Partei zur Strömung der Versöhnenden über alle Parteigrenzen hinweg. ESC-haft fallen drei Namen auf, einmal Roger Cicero (ESC 2007), Max Mutzke (ESC 2004) und auch Johnny Logan (ESC 1980, 1987, Komponist von Linda Martins ESC-Siegerlied "Why Me?" 1992).
Who’s who der deutschen Künstlerszene
Ansonsten ist die Liste der Namen unter "Menschen für Xavier Naidoo“ ein ziemlich repräsentatives Who’s who der aktuellen Popszene in Deutschland: Tim Bendzko, Rea Garvey, The Bosshoss, Kool Savas, Mousse T, Anna Loos - aber auch der Hamburger TV-Koch Tim Mälzer, der Comedian Michael Mittermeier, Thomas D (Mentor von Roman Lob), Österreichs Nationalrocker Andreas Gabalier, Christina Stürmer, Annette Humpe, Heinz Rudolf Kunze, Jan Delay, Silly, Atze Schröder und Pur. Außerdem die "Tatort"-Kommissare Till Schweiger und Jan Josef Liefers. Nebenbei: Es fehlen aber auch andere bekannte Namen, die von Herbert Grönemeyer, Nena, Helene Fischer, Ina Müller, Stefan Raab bis hin zu Lena - aber vielleicht waren die auch gerade nicht erreichbar.
Man fragt sich: Was soll das? Der Fall ist doch durch - wie auch immer man die erst erfolgte und dann zurückgezogene Nominierung Naidoos bewertet. Das fragt sich auch Jörg Isringhaus in der "Rheinischen Post": "Was hier tatsächlich passiert, ist der Schulterschluss der ewig Missverstandenen, der Kritisierten und Gescholtenen - eine Art Promi-Solidarność gegen die Anmaßung öffentlich geäußerter Kritik. Ein gleichbleibend hoher Erregungspegel hat die Häute papierdünn gescheuert, heißt: Die Nerven liegen blank. Das führt zu Fehleinschätzungen.“ Ich möchte anfügen: Die "Missverstandenen" sind allesamt krassester Mainstream - und der mäandert sich durch die keineswegs undergroundigen TV-Ausstrahlungswelten von Vox, RTL, Pro7, SAT1 und natürlich von ARD und ZDF.
Bezahlt haben soll die Anzeige Marek Lieberberg, einer der wichtigsten Konzertveranstalter im Lande. Auf "Spiegel Online“ kommentiert hierzu Christian Stöcker: "Warum also hat Marek Lieberberg die mindestens 67.000 Euro investiert, die so eine Anzeige kostet? Vielleicht einfach deshalb, weil Xavier Naidoo eine Marke ist. Eine Marke, mit der man immer noch eine Menge Geld verdienen kann. Weil es sich um eine vorbeugende Maßnahme handelt, eine Rufrettungsmarketingmaßnahme. Und dafür ist so eine Anzeige ja im Grunde auch genau das richtige Mittel." Anzeigen-Initiator Marek Lieberberg verweist in der "Augsburger Allgemeinen" diese Mutmaßungen "nach Absurdistan". "Jedes kleine Kind weiß, dass ich im Feuilleton der FAZ kein Marketing für Hip-Hop-Künstler machen kann", so Lieberberg. Ohnehin seien Xavier Naidoos Konzerte in den letzten Monaten allesamt ausverkauft gewesen und für 2016 keine Tournee geplant.
Solidarität oder Markenschutz?
In Spielfilmen, in denen es um geldliche Belange und die Recherche nach diesen geht, heißt es oft: Verfolge die Spur des Geldes. Das ließe sich für die Motivergründung der Anzeigenschaltung zu einer Frage abwandeln: Wer hat welches Interesse - und warum? Vielleicht hat der Kommentator von "Spiegel Online" recht: Die Annonce ist die aufgeregte und sehr starke Besorgnis signalisierende Reaktion auf den Umstand, dass schon die Debatte um Aussagen des Künstlers zu einem Imageschaden zu seinen Lasten geführt hat. Beziehungsweise führen könnte. Denn Xavier Naidoos frühere Statements wurden noch nie in der öffentlichen Arena so stark thematisiert wie seit der Nominierung zum deutschen ESC-Kandidaten - einerlei, ob man sie ernst nimmt oder nur für bizarre Zeugnisse künstlerischer Freiheit.
Ein krasser Schlussakkord zum Thema "ESC und Naidoo" war diese öffentliche Geste allenthalben: So viel Stürmchen in Wassergläslein war selten. Jetzt ist es wieder Zeit, in den enterregenden Modus zu schalten. Gesucht wird wieder - ein deutscher Act für den 14. Mai 2016 in Stockholm.