Kommentar: Neuer Punktemodus - ein Fortschritt
Es ist keine Revolution, die dem ESC verpasst wurde, aber eine tüchtige Fortentwicklung zwecks Spannungserhöhung ist es schon: das neue System um die Punktevergabe. Künftig wird der siegende Act wirklich erst ganz zum Schluss der dreieinhalbstündigen Show bekannt sein - weil die ESC-Reference Group die Zeremonie entscheidend verändert hat. Orientiert hat man sich am Modus, der bei der schwedischen Vorentscheidung, dem Melodifestival, üblich und eingeübt ist.
Ein Blick in die Geschichte
UMFRAGE
Was halten Sie von dem neuen Punktesystem?
Ich freue mich über das neue Verfahren. Es wird noch spannender.
Ich finde es gut, mir werden aber die individuellen Punkte der Televoter der einzelnen Länder fehlen.
Bin unentschlossen, muss ich mir erst mal live anschauen.
Mir wird die traditionelle Abstimmung der letzten 40 Jahre fehlen.
Tatsächlich litt das wichtigste Moment des ESC, die Spannung also, möglichst lange nicht zu wissen, wer gewonnen hat, sehr. Man muss lange in der ESC-Geschichte zurückgehen, um ein extrem knappes Rennen zu finden. 2003 war es, als Sertab Ereners "Everyway That I Can" in Riga mit nur zwei Punkten vor der belgischen Formation Urban Trad gewann. Auf dem dritten Platz, mit wiederum nur einem Zähler dahinter, die russischen Mädchen von t.A.T.u. mit "Ne ver', ne boysia". Mit der allerletzten Wertung hatte auch erst Niamh Kavanagh 1993 gewonnen - in "In Your Eyes" lag erst mit dem letzten Wort der letzten Jury aus Malta vor der Britin Sonia und ihrem "Better The Devil You Know". Wer gerade letzteren ESC in Erinnerung hat, wird wissen, wie extrem nervenaufreibend die Abstimmung war - und wie es bei allen die Stimmung hebt, wenn nicht schon kurz nach der Hälfte der Wertungen (wie 1982 in Harrogate beim Nicoles Sieg mit "Ein bisschen Frieden") der Sieger feststeht.
Darum geht es ja: einen Reigen von mehr oder minder prima Liedern präsentiert zu bekommen, über den am Ende abgestimmt wird. Das war immer schon die wichtigste Quelle der europäischen, besser eurovisionären Popularität des Festivals.
Zustimmung von überall
Aber der Erfolg dieser seit 1956 veranstalteten Show hat auch zum gewissen Abfall des Interesses an ihr geführt. Weil alle Länder nicht in erster Linie eint, gewinnen zu wollen, sondern vor allem nicht ganz hinten und blamiert zu landen, ist die künstlerische Breite der Beiträge von Jahr zu Jahr ähnlicher, professioneller geworden. Das klingt paradox, aber so ist es: Beiträge aus Aserbaidschan können inzwischen wie solche aus Island, Malta oder Finnland klingen, grundsätzlich jedenfalls. Der europäische Geschmack, man merkte es beim Televoting, ist ziemlich verwandt: Sieger siegen deshalb, weil sie aus fast allen Ländern Zustimmung erhalten. Was wiederum dazu führte, dass die Sieger in den vergangenen Jahren meist mit sehr großem Vorsprung gewannen. Die Sieger entsprachen weitgehend einem Geschmackskonsens beinah jeweils aller Länder.
Als Folge stand schon lange Zeit vor dem Ende der Abstimmung der Siegesact fest. Schwedens Måns Zelmerlöw war voriges Jahr der König von Wien gut 20 Minuten vor Ende der Show: Das ist, darauf wiesen die schwedischen ESC-Verantwortlichen vom SVT zurecht hin, für Fernseh-Entertainment dieser Machart viel zu lang. Wie beim schwedischen Melodifestival wird jetzt erst in letzter Minute fix sein, wer mit einem Triumph über alle die Halle verlässt.
Man könnte jetzt sagen, dass die neue Punkteverkündungszeremonie ja schon nach dem Juryergebnis den Sieger ausweist. In der Tat, das war in allen Jahren seit Einführung der 50-Prozent-Jury / 50-Prozent-Televoting-Regel der Fall - aber nicht im vergangenen Jahr. Måns Zelmerlöw war nicht beim Televoting der Sieger, das waren die italienischen Tenöre. So oder so: Mit dem letzten Punktehaufen soll der Act, der gewinnt, erst bekannt gegeben sein.
Televoting im Detail nur im Netz
Nur eine Schwäche hat die Neuerung: Bei der Zeremonie wird man erst hinterher erfahren, wie die einzelnen Länder beim Televoting abstimmten. Denn die Televotingergebnisse werden gebündelt und nicht im Detail verkündet. Das ist aber die Pointe: Man will wissen, ob etwa Deutschland aus Österreich wieder nix bekommen hat - oder ob die osteuropäischen Länder oder die skandinavischen sich jeweils beim Televoting meistbegünstigt haben. Man sollte es also umgekehrt halten: Die Punktedurchsager aus den Ländern sollten zunächst die Televotingergebnisse verkünden - im Block am Ende aber die gesammelten Juryergebnisse hinzuaddieren. Als Zuschauer will man schließlich wissen, wie die Abstimmung im eigenen Land ausgefallen ist.
Ansonsten: Wir werden doppelt so viele Punkte wie bislang zur Verteilung haben. Es wird die größte Zeremonieänderung seit 1975 sein, als das heutige "1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 10 und 12"-Punktesystem zur Dauerzeremonieregel wurde. Das ist eine Neuerung, die der Show spannungsmäßig nicht frühzeitig die Luft entzieht. Gute Entscheidung!