ESC-Voting der Deutschen spiegelt Europageschmack
Nach gut einer Stunde sagt ein Zuschauer erleichtert: "Jetzt habe ich den neuen Modus verstanden." Bis dahin hatten die Zuschauer - und ESC-Fans - gespannt zugehört, was bei dieser zweiten Station der ESC-Roadshow vom NDR berichtet wird: Wie wird es denn genau mit der Suche und der Auswahl des deutschen Kandidaten für den 63. Eurovision Song Contest Mitte Mai in Lissabon? Angereist waren Thomas Schreiber, ARD-Unterhaltungskoordinator und seit knapp zehn Jahren verantwortlich für den ESC in Deutschland, Daniel Korany von der Beratungsagentur Simon-Kucher & Partners, Werner Klötsch, Geschäftsführer von digame mobile, international für das Televoting beim ESC zuständig, sowie Christoph Pellander vom NDR, neuer Head of Delegation des deutschen Teams.
Keine Scheu vor direkten Fragen
Sie saßen im Lesbisch-Schwulen Kulturhaus in Frankfurt im Multikultiviertel an der Konstablerwache Kundigen gegenüber. Das Publikum war allermeist seit Jahren beim ESC live als Fans dabei - und wollte eben erfahren: Kommt beim deutschen Vorentscheid eine deutsche oder eine ausländische Vorauswahljury zur Geltung? Wie werden die möglichen ESC-Künstler gefunden? Schreiber und sein Team mussten sich also anstrengen, um keine Unklarheit zu hinterlassen: Und das konnten sie.
Thomas Schreiber: "Das Besondere finden"
Zunächst erläuterten sie, was die Firma digame aus den Zahlentürmen des ESC herausgefunden hat: Dass der ESC zwar die größte TV-Show Europas sei, aber von den Abermillionen Zuschauern nur ein Bruchteil überhaupt am Televoting teilnimmt. Jene, die schließlich via Telefon oder SMS abstimmen, sind, so musste man es verstehen, proeuropäisch und tolerant im Hinblick auf Lebensstile. Und interessanterweise, so Thomas Schreiber mit Verweis auf die Analyse von digame, seien Deutschlands Televotingresultate der vergangenen vier, fünf Jahre stets dem Gesamtresultat des ESC am nächsten: Die deutschen Televoter nähmen auf Nachbarschaftsaspekte, wie etwa in Skandinavien oder auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, am wenigsten Rücksicht: Hierzulande gebe man allen Liedern eine Chance. Deutschlands Televoter, kurz gesagt, seien die "europäischsten": Aus ihnen - nicht aus Personen aus dem Ausland - werden die 100 Mitglieder für das Europa-Panel gewonnen, die aus 200 Vorschlägen 20 Kandidaten herausfiltern, die es in die nächste Runde schaffen. Rund 1.000 Bewerbungen hat es gegeben, nun wird gesichtet. "Das Besondere finden!" sei der Arbeitstitel, so Thomas Schreiber und Werner Klötsch. Es komme nicht darauf an, dass ein Kandidat gewinnt, der ein Kompromiss aller "europäischen" Televoter ist - vielmehr, das erklärte Klötsch anhand von mathematischen Modellen, ein Act, der Aufmerksamkeit erzielt, also nicht eine Figur, der "allen wohl und niemand weh" tut. Die ESCs, so zeigte es Schreiber mit Powerpoint-Folien, hätten bewiesen, dass die Top Ten bei einem Eurovisionsfestival sehr gut singen können, dass sie aber gleichfalls etwas Extraordinäres verkörpern müssen: Lordi, Loreen, Verka Serduchka, Lena oder Conchita seien für diesen Befund die eindeutigsten Beispiele. Über eine Delikatesse aus den Abgründen des Abstimmungsverfahrens des ESC hatte Thomas Schreiber schon tags zuvor in München berichtet: Roger Cicero hätte, wenn Jurys 2007 beim ESC in Helsinki abgestimmt hätten, nicht Televoter, gewonnen. Lordi aus Finnland hingegen hätten den ESC 2006 in Athen nicht gewonnen, hätten Jurys allein über sie abgestimmt.
Keine Kooperation mit Musikkonzernen
Vieles wurde vom ESC-Team ausgebreitet und verständlicher gemacht, denn das Publikum wirkte höchst zufrieden. Nicht alles wurde "on the road" für den deutschen Beitrag verraten, "wir sind uns im Klaren, wie es wird, aber es ist ein Prozess, der sich entwickelt", so Thomas Schreiber. Auch Ort und Datum werden erst zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben. Sicher ist aber, dass der ESC-Vorentscheid nicht mehr in Kooperation mit Musikkonzernen abgehalten wird. Allzu oft, so Schreiber, hätten diese den Vorentscheid als Promotionsfläche für ihre Produkte genutzt und nicht darauf geachtet, ob das, was man dort präsentiert, auch Europa gefallen könnte.
Auf 100 "europäische" Köpfe kommt nun viel Sichtungsarbeit zu. Auch Juroren (nicht nur aus Deutschland), die in den vergangenen Jahren in den internationalen ESC-Jurys saßen, entscheiden über die endgültigen Vorentscheidkandidaten. Am Ende jedoch sind es dann fünf Kandidaten, zwischen denen das Televotingpublikum entscheiden wird, wer im Mai nach Lissabon reist. Am Freitag findet der dritte Teil der Roadshow in der Open Lounge des rbb in Berlin statt, Montag beim NDR in Hamburg an der Rothenbaumchaussee.