Feddersen: "Der Wurm muss dem Fisch schmecken"
Ob mir persönlich der deutsche ESC-Beitrag gefallen wird oder nicht, kann ich nicht sagen. Noch nicht, denn wir sind ja in der Zwischensaison: Die Regularien der Vorentscheidung werden bekannt gegeben, dann wird die weitere Prozedur bekannt gegeben. Der NDR hat sich entschieden, im kommenden Jahr, im Hinblick auf den 63. Eurovision Song Contest im Mai in Lissabon, mithilfe von Datenforschern den deutschen Beitrag zu ermitteln. Und zwar, indem diese europäische Menschen mit einbinden und deren Urteil stark gelten lassen.
Die Presseresonanz auf die erste Skizze des deutschen Vorentscheids war eher verhalten, aber in der "Süddeutschen Zeitung" schrieb Hans Hoff: "Man will sich halt beim NDR nicht länger auf Bauchgefühl und Zuschauerabstimmungen verlassen, weil die oft nur die nationale Befindlichkeit und nicht die internationalen Chancen beim Wettbewerb spiegeln. Bei der Analyse soll auch eine Rolle spielen, welche Songs in der ESC-Statistik wie abschnitten. Dahinter steckt die Vorstellung, man könne aufgrund der Ergebnisse vergangener Jahre errechnen, was der Publikumsgeschmack europaweit bevorzugt, selbst wenn der Sieger des diesjährigen ESC, der leise Portugiese Salvador Sobral, wahrscheinlich von keinem Algorithmus prognostiziert worden wäre."
Vergleiche mit Siegern hinken immer
Natürlich ist der Hinweis auf den Sieger Salvador Sobral ein wenig gemein: Das ist ungefähr so, als würde man Alex Swings Oscar Sings!, die deutschen ESC-Kandidaten in Moskau 2009 mit dem Norweger Alexander Rybak vergleichen: Eher schwer zu vermittelnde Pop-Nahrung mit einem Siegesschmaus zu vergleichen ist immer schief. Sobrals Lied war sensationell, zumal mit seiner Performance in Kiew, aber dass Levina nur Vorletzte wurde, hat mich nie gestört: Einige Lieder landen immer hinten, und Lenas "Satellite" hat gewonnen, weil alles stimmig war, Lied plus Sängerin plus Konkurrenzlage. Aber dass dieser deutsche Beitrag bei mir öfter gespielt wird als etwa der von Jamie-Lee oder Levina oder Ann-Sophie kann ich ehrlicherweise auch nicht behaupten.
Meinung des internationalen Publikums wichtig
Davon also abgesehen, dass persönlicher Geschmack sich von Platzierungen nie irre machen lassen sollte, ist es doch so: Die deutsche Vorentscheidung europäisch spiegeln zu lassen, die Kandidaten und Kandidatinnen prüfen zu lassen, ob sie überhaupt vermittelbar sein können, ist keine schlechte Idee. Mal was Neues! Und: Schweden macht das, wenn auch nicht in dieser Großflächigkeit, seit Jahren so. Robin Bengtsson hat dieses Jahr beim Melodifestival das Ticket nach Kiew mit "I Can’t Go On" geschafft, aber beim Televoting lag er nicht vorn, sondern wurde nur knapp Dritter. Dass er in die Ukraine reisen durfte und dort Fünfter wurde, hat er den elf TV-ESC-Spezialisten zu verdanken - die hatten ihn und seine Performance nämlich weit vorn gesehen.
ESC-Song muss deutschem Publikum nicht gefallen
Das ist insofern nur gerecht, als ein Lied, wie es einmal Ralph Siegel sagte, ja nicht dem deutschen Publikum hauptsächlich gefallen muss, sondern den Leuten, die beim ESC abstimmen - und die deutsche Crowd darf allenfalls die Daumen drücken, nicht jedoch abstimmen. Mit anderen Worten: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.
Last but not least: Einen Algorithmus, einen Mann wie Salvador Sobral zu ermitteln, kann es nicht geben. Sein Sieg war außergewöhnlich, er hat allen Mainstreamprophezeiungen gespottet. Er gewann, weil er so schutzbedürftig sich ausnahm - und nicht wie eine Kraftmaschine wirkte, hinter der die geballte Macht der Musikkonzerne steckt.