Australische Vorfreude
Brian Martin sitzt Tag für Tag im Pressezentrum: Er ist zum Journalisten geworden, indem er über den ESC berichtete. Der kräftige Mann, Jahrgang 1962, kommt aus Brisbane und ist überglücklich: "Ich kann es immer noch nicht fassen, dass mein Land nicht nur berichtet und die Show überträgt, sondern es auch mit Guy Sebastian zum 60. Contest in Wien dabei ist." Seit Anfang der 80er-Jahre wird die eurovisionäre Show in Australien ausgestrahlt, allerdings zeitversetzt: "Aber abgesehen von Olympischen Spielen ist es in Australien ohnehin nicht üblich, Shows live zu bringen."
Er kann sich noch an Bilder von Sandie Shaw erinnern. An ihr Lied "Puppet On A String", als es im Radio in seiner Heimatstadt Rockhampton, Queensland, lief. Und an "Congratulations" von Cliff Richard ebenso. 1974 zeigte man in Australien den Song Contest - mit dem Sieg von Abba. "Wir jubelten für Olivia Newton-John, aber es war sofort klar, dass die Schweden das Ereignis waren."
Teil der ESC-Welt sein
Brian Martin, der für den Internetsender 4ZZZ - Queer Radio Brisbane arbeitet und täglich viele Berichte ins Netz stellt, sagt, dass dieses Jahr außergewöhnlich ist: "Es ist wie eine Kontaktaufnahme für uns mit der Welt. Nicht nur, dass wir den Contest sehen können, nein, wir können auch mit abstimmen. Unsere Stimme ist also wichtig. Das ist die Botschaft, die wie ein Lauffeuer durchs Land ging."
Aber wie sieht es mit dem Livemoment aus? "Perth im Westen Australiens wird es 3 Uhr morgens sein, wenn in Wien die Show um 21 Uhr beginnt. Und Sydney und Brisbane, ganz im Osten, ist es dann 5 Uhr früh." Kaum denkbar, dass viele Leute so zeitig aus den Federn kommen, um zuzugucken und abzustimmen, oder? Brian Martin sagt: "Das glaube ich aber doch. Manche werden sich den Wecker stellen, einige andere bleiben in der Nacht von Samstag zu Sonntag wach. Aber dieses Live-Ereignis will man sich nicht entgehen lassen."
Kann er von Zuschauerzahlen berichten? "Nein, solche Zahlen hat keiner, auch die Senderverantwortlichen von SBS trauen sich nicht zu spekulieren. So ein Experiment hat es noch nie gegeben: Australien spielt eine tragende, nicht nur passive Rolle bei einem solchen Event." Die Faszination für den ESC ist jedenfalls gewaltig: "Einige werden die Show aufzeichnen und am australischen Abend gucken. Dafür müssen sie sich verbieten, an dem Tag ins Internet zu gehen. Denn die Topmeldung des Tages wird sein, wie Guy Sebastian abgeschnitten hat."
Fachsimpeleien Down Under
Viele Australier bereiten sich akribisch auf den ESC vor. Man hört die Lieder im Internet, man erwirbt die offizielle CD mit den 40 Songs. Man fachsimpelt mit Nachbarn, egal wo: in Hobart, Darwin oder Melbourne. "Ja, dieses Jahr ist die Show für uns Down Under eine ernste Angelegenheit geworden - und wir genießen das."
Wäre es nicht schön, würde Australien am ESC dauerhaft teilnehmen? Brian Martin überlegt nicht lange: "Ja, das wäre gut zu überlegen. Es wäre prima, ich würde mich persönlich sehr freuen. Aber wir sollten nicht wieder zu den gesetzten Ländern gehören - denn abgesehen von Lena hat seit Einführung der Semifinals nie einer von den Big Four oder Big Five gewonnen. Man muss durch das Semi, um eine Chance zu haben."
Der Mann, der ein in der Schule, außerdem bei einem Aufenthalt bei den Gay Games 2010 in Köln gelerntes Deutsch spricht, wird Freunde in Bremen, die er hat, nach dem ESC nicht besuchen können: "Keine Zeit. Ich fliege Montag nach Australien zurück." Und hofft, nächstes Jahr wieder vollen Einsatz über zwei Reporterwochen zeigen zu können: "Der ESC ist mein Ding, seit 1986. Er verkörpert eine Idee vom friedlichen Miteinander, die ich immer attraktiv fand."