Feddersens Kommentar: Der richtige Sieger
Dass er mit insgesamt 19 Mal zwölf Punkten bei den Jurys gewann, war schon stark überraschend. Dass Salvador Sobral auch das Televoting gewann, spricht für die Weisheit des Publikum: Das portugiesische Lied war besser als alle anderen, es hat verdient gewonnen. Dieser Act, der mehr wie eine kleine Nummer in einem Club war, war anders als alle anderen. Auch ungewöhnlich im Vergleich mit den Ethno-Popnummern aus Ungarn oder Armenien: Sobral war eine eigene Liga bei diesem 62. ESC - und damit war noch vor einigen Wochen nicht zu rechnen.
David gegen Goliath
Denn in allen Wetten lag der Italiener Francesco Gabbani vorne, deutlich. Aber je länger die Proben in Kiew dauerten, umso mehr kristallisierte sich unter Fans und Journalisten der Wunsch heraus, diese perfekte Inszenierung von populärer Unterhaltungsmusik "made in Italy" möge nicht so einfach als Sieger durchgewunken werden. Am Ende lag Gabbani auf dem sechsten Platz: Er war der Goliath, der Portugiese war der David vom westlichen Zipfel Europas, der es allen zeigte.
Gefühl vor Feuerwerk
Salvador Sobral erklärte noch vor der Siegespräsentation in gar nicht auftrumpfender Sprache, gesiegt habe nicht "Feuerwerk", sondern "Gefühl". Das hieß: Nicht auf die fette, fulminante Inszenierung komme es bei guter Musik an, sondern auf das schlichte, stimmige Lied. Mit Portugals erster ESC-Trophäe hat eine Möglichkeit von ESC-Wahrhaftigkeit obsiegt, die lange als verschollen gelten musste: eine Komposition, die einen sinnvollen Text trägt - vorgetragen von einem Sänger oder einer Sängerin, die nicht zu posieren scheinen, sondern im Moment des Die-Nase-vorne-Habens fast vor Demut klein wird.
Ein Siegersong als Anregung
Für alle anderen Länder wird dieser Abend von Kiew mit seinem Ergebnis hoffentlich eine Anregung sein, die Pfade der industrieabhängigen Ästhetik beiseite zu lassen oder ihr wenigstens kein automatisches Vorrecht einzuräumen.
Neue Impulse
Man darf sich jedenfalls mit diesem kleinen, tatsächlich armen Land Portugal freuen: Könnte sein, dass es dem Projekt ESC so sehr neue Impulse verleihen kann, dass aus dem größten Popevent Europas - und seiner Nachbarn sowie Australiens - wieder öfter ein musikalisches Glanzlicht hervorgeht. Der ESC wird sonst eines Tages einen Tod wegen allzu starker Mainstream-Abhängigkeit erleiden. Das wäre für das populärste Kulturereignis Europas mehr als nur schade.