Rückblick: Israels Sieg vor 20 Jahren
In der historischen Rückschau sind die Fakten klar: 1998 beim 43. ESC in Birmingham siegte die transsexuelle Israelin Dana International mit dem Titel "Diva". Guildo Horn wurde mit "Guildo hat euch lieb" Siebter, und die Schweiz mit Gunvor mit dem erschütternd belanglosen "Lass' ihn" mal wieder Letzter - obendrein mit keinem einzigen Punkt belohnt. Österreich durfte wegen der schlechten Resultate der Jahre zuvor nicht einmal mitmachen.
Es waren warme, sehr sympathische Frühlingstage im mittelenglischen Birmingham - und niemand störte sich daran, dass die National Indoor Arena Sicherheitsvorkehrungen übte, die einem Global-Political-Event ähnelten. Kein Wunder: Eine Woche später sollte am selben Ort der G8-Gipfel stattfinden.
Viele alte Zöpfe wurden abgeschnitten
Es war das Eurovisionsfestival, das anders wurde als alle zuvor, es war wie entschlackt und von der muffigen Atmosphäre befreit. Zwar war die Sprachregel noch gültig - das Lied musste in einer der Landessprache gehalten sein -, aber immerhin war das Orchester letztmals rührig: Es war erlaubt, dass die Acts vollständig von Backing Tracks mit Takt und Ton beliefert wurden. Möglich sollte werden, dass auch moderne Arrangements, die kein Orchester spielen kann, zur Aufführung kommen können. Die Neuerung konnte allerdings auch ironisch gebrochen werden: Stefan Raab dirigierte für Guildo Horn das BBC-Orchester, das aber keinen Ton wirklich spielte, denn "Guildo hat euch lieb" kam, bis auf den Gesang, komplett aus der Konserve. Eingeführt war in diesem Jahr aber das Televoting. Die Jurys waren, bis auf wenige Länder, die schlechte Telefonnetze geltend machten, entmachtet.
Hätte die Jury Dana zur Siegerin gekürt?
Die Frage stellte sich natürlich nach diesem ESC: Hätte Dana International mit einem sehr tanzfähigen Discotitel auch gewonnen, wenn die Jury noch allein stimmberechtigt gewesen wäre? Eine Antwort gibt es nicht, aber zwei Jahre zuvor war Gina G. aus Großbritannien mit dem größten ESC-Hit jenes Jahres ("Just A Little Bit") gerade von eher konservativ-katholischen Ländern in den Abgrund gewertet worden - das Publikum hatte noch kein Mitspracherecht.
Dana International aber war in den Wochen zuvor keineswegs in allen Eurovisions-Ländern eine Attraktion. Online-Medien gab es noch so gut wie keine, und die, die es gab, beschäftigten die sich nicht mit dem ESC. Dass Israel eine Künstlerin schicken würde, die von den ultraorthodox-religiösen Kräften in ihrer Heimat keine Sympathien bekam, dass da eine transsexuelle Sängerin performen würde, war kein besonders mächtiges Thema. In deutschen Zeitungen, im Fernsehen und im Radio gab es stattdessen nur ein einziges: Guildo Horn.
Nussecken und Himbeereis
Er war der Mann, der Deutschland erstmals seit den Zeiten Nicoles über das eher schlagerselige Publikum hinaus für den ESC interessierte. Selbst hochkulturbesessene TV-Magazine wie die 3sat-"Kulturzeit" schickten Reporter nach Birmingham - weil die mitteĺenglische Stadt ziemlich bevölkert war mit deutschen Fans, die eigens für den Sänger eingeflogen waren. Kein Medium in jenen Tagen kam ohne tägliche, gar stündliche Nachrichten über und mit Guildo Horn aus. Und immer wurde gefragt, etwa in Interviews mit Nicole und Ralph Siegel, ob so einer wie der Performer aus Trier Deutschland vertreten dürfe. Sie verneinten entsetzt. Aber na klar, er durfte, er konnte, er tat es: Es waren moderne Zeiten angebrochen. Und inzwischen soll Nicole auch ihren Frieden mit Guildo Horn gemacht haben, heißt es.
Schrille Tage in Birmingham
In der Erinnerung waren die Tage von Birmingham ziemlich schrill: Die Fanszene war noch karg entwickelt, der Herausgeber der EuroSong News, der Reedereikaufmann Ivor Lyttle, platzierte einen eigenen Stand mit Fanmaterial in der Arena. Gut im Gedächtnis ist auch noch, wie die Begleitmusiker der Französin Marie Line am Rande der innerstädtischen Kanäle - die zu Fußgängerzonen ausgebaut waren - gern um Mitternacht chillend beim Kiffen anzutreffen waren. Und auch, dass der EuroClub eher klein ausfiel und man dort Dana International ohne Bodyguards zu "Dancing Queen" schwofen sah (bauchfrei, in einem orangefarbenen Mini-Bikini-Top), und dass Edsilia aus den Niederlanden so gut wie nie die Erste war, die die Party verließ. Dafür weinte dort die Belgierin Melanie Kohl nach dem Grand Final, weil sie mit "Dis oui" nicht gewann: berührende Momente.
Schräger Guildo Horn zeigt vollen Einsatz
Guildo Horn begründete nicht erst am Finalabend den Ruf des ESC in Deutschland, er sei ein ganz schräger, und das hieß unernsthafter Vogel - so von wegen Käseigel, Nussecken und Himbeereis. Wer ihn performen sah, wer mit ihm sprach, sah aber: Niemand nahm den ESC so ernst wie er - ein Ironiker war er nur begrenzt. Er sagte: "Wer auf der Bühne steht, der hat hoffentlich Spaß. Mit dem ist aber nicht zu spaßen."
Dana International widmete ihren Sieg ihrem Land
Und Dana International? War und wurde noch mehr eine Berühmtheit, nicht nur in Israel. Sie sagte nach ihrem Sieg in der National Indoor Arena: "Ich widme diesen Sieg meinem Land zum 50. Geburtstag. Und allen Gays und Lesbians und Transsexuals in aller Welt." Birmingham: Das war der erste ESC, der deutlich ins Bewusstsein hob, dass das Eurovisionsfestival die queere TV-Familienshow Europas und seiner Nachbarn schlechthin ist.
Netta Barzilai will den nächsten Sieg schaffen, es wäre wieder ein Triumph für eine ungewöhnliche Performerin: "Ich wurde oft gehänselt mit meinem Aussehen. Aber ich habe es geschafft." Das ist genau das, was Dana International und die diesjährige Favoritin auf den ESC-Sieg gemeinsam haben.
P.S.: Ich war in jenem Jahr sicher, dass Portugals Alma Lusa mit "Se eu te pudesse abraçar" sehr gut abschneiden würde und auch Finnland, Edea mit "Aava". Ein Irrtum. Schöne Lieder blieben und bleiben es trotzdem.