1996 bringt ESC-Neuanfang für Deutschland
Vor 21 Jahren war der MDR, ARD-Sender für Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, dieses Projekts überdrüssig: Vom Bayerischen Rundfunk hatte man die Betreuung des Eurovision Song Contest geerbt, aber man wusste in Leipzig nicht so recht etwas damit anzufangen. Es waren, auch popästhetisch, zwischen 1991 und 1995 peinliche deutsche ESC-Jahre. Atlantis 2000 und Wind bei Vorentscheidungen in Berlin und Magdeburg, danach die ohne öffentliche Show nominierten Acts wie Münchner Freiheit (1993), Mekado (1994) und Stone & Stone (1995): Das waren, abgesehen von Mekado 1994 in Dublin auf dem dritten Rang, Jahre mit sehr schlechten Platzierungen. 1996 gab der MDR die Verantwortung an die ARD zurück - und es griff der NDR zu. Dessen damaliger neuer TV-Unterhaltungsschef Jürgen Meier-Beer übernahm das Projekt, ohne die genauen europäisch-eurovisionären Dimensionen schon im Blick zu haben.
"Ein bisschen Glück" aus dem Hafenviertel
Die erste Entscheidung war, wieder einen Vorentscheid auszutragen. Unter dem Titel "Ein bisschen Glück" moderierte Tagesschau-Sprecher Jens Riewa am 1. März 1996 die Show - und zwar aus einer Halle in Hamburg, die abseitiger kaum liegen könnte: Es war die Friedrich-Ebert-Halle. Sie liegt in einem Stadtteil weit weg von der Innenstadt, getrennt von ihr durch die Elbe und ein ziemlich massiges Hafenviertel. Aber: Diese Location war in den frühen sechziger Jahren berühmt in der damals hippen Beatszene, die Beatles spielten in der Halle mit der famosen Akustik einige ihrer ersten Titel ein.
Dieser Abend war ein nicht besonders kalter in Hamburg - die Show selbst war im Stil jener Jahre extrem bunt aufgezogen. Stars oder Sternchen aus dem zeitgenössischen Pop waren keine dabei, der NDR musste in der chartorientierten Popindustrie immer wieder die Erfahrung machen, dass der ESC für keinen Newcomer - geschweige denn irgendeinen Etablierten - besondere Strahlkraft hatte. Nena, Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen, Nina Hagen, Herbert Grönemeyer? Unmöglich, sie selbst als Paten oder Patinnen zu gewinnen.
Und: Die damals schon öffentlich merkliche Schlager-Renaissance der ironischen Sorte, verkörpert durch Underground- und Szenehelden wie Petra Perle oder später Guildo Horn, war noch nicht geladen. Was Künstler wie diese als schwungvolles Entertainment zelebrierten - "ehrliche Schlager", so das Motto -, war beim deutschen Vorentscheid ziemlich bierernst gehalten: Der ESC in Deutschland, man sah es der Vorentscheidung direkt an, war von bierbitterer Ernsthaftigkeit noch.
Schlager dominiert das Teilnehmerfeld
Insofern war es kein Wunder, dass absolut zeitloser Schlager - technisch mit Pseudotechnobeats ein wenig aufgemotzt - dominierte. Sängerinnen und Sänger wie Euro-Cats, Jacques van Eijck, André Stade, Nina Falk, Rendezvous, Enzo, Anett Kölpin oder Ibo kannte vorher fast niemand. Immerhin hielten sich noch André Stade (der mit seinem Titel "Jeanny, wach auf" vom Helene-Fischer-Haus-und-Hof-Komponisten Jean Frankfurter den zweiten Platz belegte) und auch Ibo einige Jahre in ihrer Branche. Auch Ralph Siegel durfte nicht fehlen, er kam mit einer ethno-kelto-panflötengrundierten Nummer namens "Echos" von der späteren Volksmusiksängerin Angela Wiedl: Es war ein Lied, das in gewisser Hinsicht das europäisch stärkste gewesen wäre, denn im selben Jahr sang sich ja Elisabeth Andreassen mit "I Evighet" in Oslo in verwandtem Sound auf den zweiten Platz. "Echos" aber wurde mit 11,9 Prozent beim Vorentscheid-Televoting nur Dritter. Sieger wurde ein unbekannter Frisör namens Leon, dem Hanne Haller einen tanzbaren Titel auf den dürren Leib schneiderte: "Blauer Planet" lag mit 37,9 Prozent weit vor allen anderen.
Eigentlich gingen sehr viele Fans - bis auf die Freunde von "Echos" - davon aus, dass es Leon in Oslo sehr weit bringen würde. Er war der Hoffnungsträger für bessere Zeiten. Aber vor dem Finale in Oslo musste es noch eine Art Vorauswahl geben. Denn durch die ESC-Erweiterung in den früheren Ostblock hinein, wollten 30 Länder nach Norwegen zum Grand Final des 41. ESC. Doch es gab nur Platz für 23 Länder, sieben mussten also noch ausgesiebt werden.
Scheitern am Vor-Finale
Ich war bei der damaligen deutschen Jury (wir hatten gemeinsam Estland als Sieger, gefolgt von Schweden und Irland) dabei - und nichts deutete darauf hin, dass Leon auf der Strecke bleiben würde. Und doch: So geschah's. Deutschland war also erstmals seit den Anfängen 1956 in Lugano nicht beim ESC dabei. Der NDR verlegte die Liveübertragung ins Dritte Programm, Moderator Ulf Ansorge reicherte seine Kommentare öfter mit Hinweisen an, eigentlich sei dieser oder jener Titel wirklich schlechter als des Deutschen "Blauer Planet". Als Folge dieses ästhetischen Unglücks gab es allerdings eine EBU-Entscheidung, die viel mit dem Entsetzen der norwegischen ESC-Veranstalter zu tun hatte: Die Big-Five-Länder Deutschland, Großbritannien, Italien, Spanien und Frankreich sollten künftig fürs Finale gesetzt sein, sonst beschweren sich die Sponsoren über die mangelnde Zuschauerwahl.
Leon, insofern, scheiterte an der Finalqualifikation - und sorgte doch mit dafür, dass Deutschland seither nie mehr durch eine ESC-Qualifikation musste. Der Sänger ist längst aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden, im Jahr darauf sang er abermals beim Vorentscheid. Mit seinem Titel "Schein (Meine kleine Taschenlampe)" konnte er aber nichts ausrichten, gewonnen hatte damals in Lübeck Bianca Shomburg mit "Zeit".