"Die Geschichten liegen auf der Straße"
Die ARD-Sendung "Meine Show" mit Dagmar Frederic dürfte selbst bei den meisten Mitwirkenden inzwischen in Vergessenheit geraten sein, aber dort fand mein Erstkontakt mit dem Eurovision Song Contest statt: Die Münchener Freiheit, meine erste Lieblingsband als damals neunjähriger Grundschüler, war auserkoren worden, Deutschland in Millstreet zu vertreten, und stellte ihren Beitrag "Viel zu weit" an einem Donnerstagabend in den Osterferien 1993 in besagter Show vor. Die Teilnahme geriet zu einem größeren Misserfolg, aber der ESC, der damals in den Medien noch als "Grand Prix" bezeichnet wurde, hatte mich gepackt.
Es waren allerdings weniger die zumeist sehr schlichten Lieder von schultergepolsterten Neon-Pastell-Kostümträgern, die mich damals ansprachen, sondern die Punktevergabe, die mich zur Nachahmung inspirierte: In einer Papp-Deko brachten meine gesammelten Playmobil-Männchen schnell irgendwelche Phantasie-landessprachlichen Schlager hinter sich, ehe die seinerzeit noch deutlich ausuferndere Verlesung der Punkte begann. Ich finde auch heute noch, dass der ESC einiges von seinem Charme eingebüßt hat, seit die Spokes Person nur noch die Länder durchsagt, an die acht, zehn und zwölf Punkte gehen.
Sturmfrei-Partys und viel Spreu
Die darauffolgenden Jahre verfolgte ich den Song Contest vorsichtig aus der Ferne. Dann kam Stefan Raab und schickte 1998 erst Guildo Horn und zwei Jahre später sich selbst ins Rennen und machte die Veranstaltung damit auch für meine Mitschüler interessant. In den frühen 2000er-Jahren war der Song Contest ein beliebtes Mittel, um sogenannte Sturmfrei-Partys im Freundeskreis zu untermalen, aber mein Interesse hatte sich vor allem musikalisch deutlich woandershin verlagert. Ich hörte lieber Indierock und schrieb darüber auch meine ersten musikjournalistischen Texte.
Dann kam der Medienjournalist Stefan Niggemeier, der mich im Frühjahr 2007 fragte, ob ich mit ihm zusammen eine Betrachtung der 42 Songs für Helsinki schreiben wolle. So hörte ich mich erstmals bewusst durch das gesamte Repertoire, damit wir in unserer kleinen Handreichung "die Spreu von der anderen Spreu" trennen konnten. Entsprechend gut vorbereitet sah ich den Sieg von Maria Serifovic, stand dem Event und vor allem der dort vorgetragenen Musik aber plötzlich skeptischer denn je gegenüber.
Das Herz an Lena verloren
Aus diversen Launen heraus hatten Stefan und ich uns für das Jahr 2010 vorgenommen, selbst zum ESC zu fahren und unsere dortigen Erlebnisse in einem Videoblog zu verarbeiten. Dann gewann eine junge Frau namens Lena Meyer-Landrut das Casting bei "Unser Star für Oslo" und die Herzen der halben Fernsehnation inklusive meinem und wir mussten fahren. Weitgehend planlos kamen wir in Norwegen an und begannen unser Oslog, wobei wir schnell feststellten, dass die Geschichten beim Song Contest quasi auf der Straße liegen: Die ganz große Show für nicht immer ganz so große Songs; staatstragende Veranstaltungen wie die Welcome Reception oder der Botschafterempfang; freundliche Menschen, die uns zeigten, wie diese ganze Bühnentechnik funktioniert, und - in unserem ersten Jahr - ein unglaublicher Medienhype um Lena, den wir halb amüsiert, halb besorgt aus der zweiten bis dritten Reihe beobachteten.
Eine Akkreditierung beim ESC bedeutet aber vor allem: Dauerbeschallung mit den Teilnehmersongs. Bei den verschiedenen Einzel- und Durchlaufproben und den Events drumherum kann man die Songs bis zu 20 Mal hören - und plötzlich mussten wir erstaunt feststellen, dass der Unterschied zwischen ESC-Songs und dem, was wir beim Hotelfrühstück im Top-40-Radio geboten bekamen, eigentlich gar nicht so groß ist.
Nach Lenas Sieg (den ich vor unserer Abreise in einer Wette mit Stefan vorhergesagt hatte) war natürlich klar, dass wir auch beim "Heimspiel", dem ESC in Düsseldorf dabei sein müssten. Ein Jahr später reisten wir dem Grand-Prix-Zirkus nach Baku hinterher, wo wir sonst wahrscheinlich im Leben nie hingekommen wären, und wo wir uns in einem sehr merkwürdigen Spannungsfeld von großer Gastfreundschaft und gefühlter Totalüberwachung bewegten.
Mit Peter Urban in der Sprecherkabine
Im vergangenen Jahr ergab sich für mich dann die Gelegenheit, den ESC von der anderen Seite zu erleben: als Assistent von Peter Urban in der deutschen Delegation. Plötzlich saß ich mit dem Mann, der für mich wie für viele andere die Stimme des ESC ist, in einer kleinen Sprecherkabine in der Malmö Arena, unterstützte ihn bei der Recherche und hielt den Kontakt zu den Technikern in Hamburg. An einem Abend mussten wir eine halbe Stunde auf unser Shuttle-Auto warten, weil Bonnie Tyler uns unser Fahrzeug einfach weggeschnappt hatte.
Nach vier Jahren vor Ort lässt es sich nicht mehr leugnen: Mir ist diese merkwürdige Veranstaltung ans Herz gewachsen. Wie da Menschen aus aller Welt für zwei Wochen im Jahr in irgendeine Stadt einfallen, um die Europameisterschaften im Singen zu veranstalten beziehungsweise zu verfolgen, das muss man nicht unbedingt verstehen, aber der ESC ist in dieser Beziehung wie Fußball: exakt so wichtig, wie man ihn nennt.