Wenn der ESC Politik macht
Eigentlich ist der ESC nur ein harmloser Singer-Songwriter-Wettbewerb, der jedes Jahr aufs Neue für große Unterhaltung sorgt. Eigentlich. Und politische Statements haben hierbei nichts zu suchen. Das ist freilich von Anbeginn an anders gewesen - seit 1956, seit dem ersten ESC in Lugano, Schweiz.
In den Regularien der EBU heißt es, dass "Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur […] während des Contests untersagt [sind]". Und dennoch schaffen es jedes Jahr auch Beiträge in den Wettbewerb, die vorherrschende Meinungen in Frage stellen, Kriege verurteilen oder - wie der portugiesische Beitrag "E depois do adeus" von 1974 - sogar Revolutionen ins Rollen bringen.
Wissenschaft meets ESC
In einem Symposium am Rande des ESC in Wien sind in dieser Woche zahlreiche Wissenschaftler, Politiker und Journalisten zusammengekommen, um dieses Phänomen genauer zu beleuchten. Hierzu eingeladen hat ein, von der Europäischen Kommission finanziertes Projekt der Uni Wien namens "Eurovision: A History Of Europe Through Popular Music".
Neben einigen Gesprächsforen erzählen auch die ehemaligen ESC-Teilnehmerinnen Åse Kleveland (Norwegen,1966), Ismeta Dervoz (Bosnien und Herzegowina 1976 und 1993) und Claudette Buttigieg (Malta 2000) von ihren politischen Erfahrungen während und nach ihrer Teilnahme beim ESC. Sie alle haben sich nach ihren ESC-Auftritten für eine politische Karriere entschieden. Nicht, weil ihre Songtexte so kritisch gewesen seien, sagt Åse Kleveland. Es sei vielmehr der Kontakt zu den Menschen aus aller Welt und ihren kontroversen Gedanken gewesen, der ihre Leidenschaft zur Politik weckte.
Integration vs. Stereotype
Obwohl Anti-Kriegs- und Emanzipationsbewegungen vor allem in den 60er und 70erJahren Konjunktur hatten, sind vieler ihrer Anliegen heute aktueller denn je. In diesem Kontext seien nicht nur jüngere ESC-Teilnehmer wie Aserbaidschan (2008) gemeint. Auch in Westeuropa habe sich nach Ansicht des österreichischen Bundesrats-Abgeordneten Marco Schreuder etwas getan. Nachdem Österreich einige Jahre mit dem extremen Rechtsruck der Regierung und diversen Verbrechen wie dem Kampusch-Fall oder Fritzl-Drama zu kämpfen hatte, sei es endlich gelungen, mit Conchita Wurst ein anderes Bild des Landes zu zeichnen. Die meisten in Österreich können sich mit der ESC-Siegerin von 2014 identifizieren: Wer für das Land gewinnt, könne keine Schlechte sein.
Sie stehe für einanderes Österreich und zeige, dass es auch ein anderes Norwegen oder Ungarn geben könne. "Ich denke aber nicht, dass sie Österreich im klassischen Sinne repräsentiert" sagt Schreuder. "Ich habe sie noch nie mit einer österreichischen Flagge gesehen, genauso wenig wie mit einer Regenbogenflagge. Sie repräsentiert die Unantastbarkeit der Menschenwürde."
Und auch für Journalistin Cathrin Kahlweit von der Süddeutschen Zeitung ist Conchita in ihren Statements stets sehr viel unpolitischer gewesen, als beispielsweise die Ukrainerin Ruslana, Gewinnerin des ESC 2004. Im selben Jahr fand auch die Orange Revolution in der Ukraine statt - ein Aufbegehren, das von nahezu ganz Europa unterstützt wurde. Ruslana sei - auch aufgrund ihrer großen Bekanntheit durch den ESC - direkt nach dem Contest zu einer wichtigen politischen Figur ihres Landes geworden. Besuche des ukrainischen Parlaments, die tagelange Belagerung des Kiewer Maidan, Engagement in revolutionären Bewegungen: Ruslana habe, laut Kahlweit, fast überall mitgemischt und zeige, wie politisch der ESC sein kann.
- Teil 1: Wissenschaft meets ESC
- Teil 2: ESC und die Welt