Länder-Seilschaften beim ESC: Vorteile oder Vorurteile?
Nicht immer entscheiden beim Eurovision Song Contest allein Gesangsqualität oder Performance darüber, wie viele Punkte ein Land für seinen Beitrag erhält. Manches Mal wirkt sich auch die politische oder kulturelle sowie die geografische Nähe auf den Punktesegen aus. "Die Osteuropäer schieben sich doch immer gegenseitig die Punkte zu!" - So lautet zumindest eine Kritik am Wettbewerb. Nur, stimmt das?
Kulturelle Nähe schlägt Songqualität
Analysiert man die Punktevergaben seit 1975, erhärtet sich vor allem bei einem Länderpaar der Verdacht, dass auch Faktoren abseits der Songqualität eine Rolle spielen: Egal ob Rock, Pop oder Ballade - die Türkei und Aserbaidschan schoben sich bei jeder Gelegenheit die Höchstpunktzahl zu. Beim Vergeben von zwölf Punkten war keine andere Länderbrüderschaft einander treuer, nahm dann aber ein unerwartetes Ende mit dem ESC-Ausstieg der Türkei ab 2013.
Aufmerksamkeit für Nachbarländer ist größer
Trotzdem bleibt die Frage: Jahr für Jahr die Höchstpunktzahl, ist das fair? Und, paktieren auch andere Nationen untereinander? Beim Länderpaar Türkei und Aserbaidschan sei die Punkte-Freundschaft zumindest wenig überraschend, meint Irving Wolther: "Ob Filme oder Musik - Künstler aus der Türkei sind Aserbaidschanern geläufig", sagt der ESC-Experte. "Der Auftritt des Bruderstaates wird mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt, die Anrufbereitschaft ist höher."
Der Osten hält zusammen
Auch zwischen anderen Staaten gibt es solche Allianzen. Rumänien steht seinem Nachbarland Moldau nahe, gleiches gilt umgekehrt. Beide Länder tauschten im Schnitt die meisten Punkte untereinander.
Enge Freunde sind auch die Nachbarländer Bosnien-Herzegowina und Serbien. Zypern und Griechenland schenkten sich ebenfalls gegenseitig viele Punkte. Allerdings längst nicht immer die Maximalpunktzahl. Ein Punkte-Pakt wie zwischen der Türkei und Aserbaidschan wiederholte sich allerdings bisher nicht.
Türkei und Aserbaidschan sind ungleiche Partner
Zwar profitierten beide Länder gleichermaßen vom gegenseitigen Punktegeschenk, ihre ESC-Karrieren entwickelten sich dennoch ganz unterschiedlich: Bei ihrem Debüt 1975 in Stockholm belegte die Türkei sogleich den letzten Platz - und das nicht zum letzten Mal. Das Land brauchte zwei Jahrzehnte, um erstmals unter den besten Fünf zu landen.
Der Punkte-Freund Aserbaidschan musste hingegen nicht so lange auf Höhenflüge warten: Nur ein Jahr nach dem Erstauftritt schaffte es Aserbaidschan auf den dritten Platz 2009 in Moskau, im Jahr 2011 entschied es den Wettbewerb sogar für sich. Doch das Punkteglück ebbte ab: Mit nur 33 Punkten stürzte das Land 2014 in Kopenhagen drastisch ab, belegte einen der letzten Plätze. Seitdem schaffte es keiner seiner Finalisten mehr in die Top 5. Selbst zwölf Punkte vom, zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschiedenen, Partner Türkei hätten das nicht ändern können.
Allianzen bescherten bisher keine Siege
So kann auch das Ergebnis der Datenanalyse Sportsfreunde aufatmen lassen: Die Punkteschieberei brachte bisher weder der Türkei noch Aserbaidschan einen Sieg ein, den die Länder ohne Unterstützung des freundlich gesinnten Nachbarn nicht erreicht hätten. Aserbaidschan hätte den ESC auch ohne die routinemäßige Höchstpunktzahl aus der Türkei gewonnen: Das Duo Ell / Nikki trennte damals 32 Punkte vom Zweitplatzierten.
Auch die Türkei profitierte in ihrer ESC-Geschichte nicht vom Punktesegen aus Aserbaidschan: Während der Allianz gewann kein türkischer Finalist den Contest. Den ersten und einzigen Sieg fuhr das Land ein, bevor Aserbaidschan am ESC teilnahm - im Finale 2003 in Riga.