Wertungspanne erhitzt Gemüter in Norwegen
Es hätte so schön sein können: In Tränen aufgelöst gewinnt Ulrikke Brandstorp mit hauchdünnem Vorsprung das Finale des norwegischen Melodi Grand Prix und darf ihr Land mit dem Titel "Attention" in Rotterdam vertreten. Doch nun diskutiert ganz Norwegen darüber, ob der Sieg überhaupt verdient ist. Der Grund: Das Online-Wertungsverfahren hatte in der ersten Abstimmungsrunde den Dienst verweigert. Um mit der Show fortfahren zu können, wurde zur Ermittlung der vier Finalisten eine 30-köpfige Back-up-Jury herangezogen. Mittlerweile haben deswegen mehr als 750 Zuschauer Beschwerde beim norwegischen Rundfunkrat eingelegt, denn die Jury traf ihre Entscheidung, ohne die Show überhaupt gesehen zu haben.
Back-up-Jurys entscheiden ohne Show zu sehen
Grundsätzlich sind Jurys als Ersatzlösung für Publikumsabstimmungen seit vielen Jahren ESC-Standard. Vor Einführung des zweistufigen Wertungsverfahrens 2016 wurden sie bei technischen Schwierigkeiten immer wieder als alleinige Entscheidungsinstanz herangezogen. Der kleine aber feine Unterschied liegt darin, dass die Back-up-Jury des norwegischen Melodi Grand Prix ihre Entscheidung am Vorabend der Finalsendung auf Grundlage der Studioversionen der zehn Beiträge traf. Sängerin Tone Damli, die nicht unter die vier Finalisten gewählt wurde, schrieb in einem Instagram-Post: "Es kotzt mich so verdammt an, wie diese Sache gelaufen ist. (…) Das heißt, dass wir Künstler am Ende nicht den geringsten Einfluss auf das Ergebnis hatten."
Endergebnis beim Melodi Grand Prix wirft Fragen auf
Didrik Solli-Tangen, der gemeinsam mit seinem Bruder Emil angetreten war, postete auf Instagram den Mülleimer, in dem er seine Akkreditierung entsorgt hatte - mit dem Hashtag #denfølelsen, auf Deutsch etwa: Das fühlt sich so an. Während der norwegische Sender NRK mit Blick auf das Endergebnis auf den Favoritenstatus von Ulrikke Brandstorp im Vorfeld verweist, wirft der knappe Vorsprung, mit dem "Attention" vor dem zweitplatzierten Song "Pray for Me" landete, Fragen auf. Denn auch in der letzten Abstimmungsrunde versagte zeitweise das Online-Wertungstool, sodass bei Weitem nicht alle Stimmen gezählt wurden, die potenziell hätten eingehen können, wie die Tageszeitung "Verdens Gang" berichtet.
Emojis brachten Abstimmungssystem zum Absturz
Während Ulrikke Brandstorp von ihren Kolleginnen und Kollegen trotz aller Verärgerung zum Sieg beglückwünscht wurde, hagelte es harsche Kritik am norwegischen Sender NRK, der auf Biegen und Brechen technische Neuerungen durchsetzen wolle. So habe das neue Online-Abstimmungstool schon in den Semis nicht richtig funktioniert, wie NRK auf seiner eigenen Internetseite einräumt. Für die Zeitung "Aftenposten" besteht der eigentliche Skandal darin, dass der Sender sich nicht vernünftig auf einen Ausfall des Tools vorbereitet habe. Tatsächlich hatte der massenhafte Versand von Herzchen und Likes am Samstagabend zum Absturz des Systems geführt. Ungeachtet dessen hat NRK angekündigt, auch 2021 wieder auf eine Online-Abstimmung zurückgreifen zu wollen.
Sender NRK muss mit Schadensersatzforderungen rechnen
Für NRK ist das Ganze eine höchst peinliche Situation, die offenbar möglichst schnell beigelegt werden soll. So verzichtete der Sender am Sonntag auf eine Wiederholung des Melodi-Grand-Prix-Finals, wohl um die die Emotionen nicht weiter hochkochen zu lassen. Derweil hat der Manager von Tone Damli Schadenersatzforderungen gegen NRK angekündigt. Und auch andere Künstler erwägen, sich die Kosten für Promotion und Vorbereitung auf ihren Vorentscheidungsauftritt erstatten zu lassen, die angesichts der Entscheidung auf Basis der Studioversionen umsonst gewesen seien. Nach einer Welle der Emotionen hat sich die Aufregung zwar mittlerweile etwas gelegt, doch die Art von "Attention", die der norwegische Beitrag jetzt auf sich gezogen hat, wäre Ulrikke Brandstorp sicherlich lieber erspart geblieben.