Wie Liechtenstein beinahe am ESC teilnahm
Nur zwei unumstritten souveräne und europäische Staaten haben bislang niemals am Eurovision Song Contest teilgenommen: der Vatikan und Liechtenstein. Obwohl Radio Vatikan sogar Gründungsmitglied der Europäischen Rundfunkunion (EBU) ist, hatte der kleinste Staat der Welt niemals ernsthafte Absichten, am ESC teilzunehmen. Anders Liechtenstein: Im Jahr 1975 wurde sowohl eine Sängerin als auch ein Song ausgewählt, mit dem das Land sein Debüt beim ESC 1976 in Den Haag geben sollte. Doch zur Teilnahme kam es nie - und den ausgewählten Song "My Little Cowboy" hat seitdem niemand mehr gehört. Über die Sängerin Biggi Bachmann weiß man wenig. Auch wie das Auswahlverfahren ablief, ist unklar gewesen. Bis jetzt.
Liechtenstein plant schon 1973 eine ESC-Teilnahme
Die Pläne, Liechtenstein zum ESC zu bringen, starten nicht erst 1975, sondern schon zwei Jahr zuvor. Das geht aus Briefwechseln hervor, die heute dem Amt für Kultur im Liechtensteinischen Landesarchiv unterliegen. Im Herbst 1973 trifft sich Geschäftsmann und Treuhänder Werner Walser zusammen mit einem liechtensteinischen Regierungsrat und dem Schallplattenproduzenten Horst-Heinz Henning, der auch etwa für Mary Roos Lieder textete. Gemeinsam wollen sie das Land zu einer Teilnahme am Grand Prix Eurovision de la Chanson bewegen. Am 1. Oktober schreibt Walser an den Kultur- und Jugendbeirat (KJB) der Regierung in Schaan. Der Beirat soll bei der EBU den Antrag stellen, Liechtenstein zum ESC zuzulassen: "Es ist aber nicht einzusehen, dass Länder wie z.B. Israel und Malta an dieser europäischen Ausscheidung teil nehmen (sic) können und Liechtenstein bis jetzt als ein rein europäisches Land keine Gelegenheit erhalten hat, an diesem künstlerischen Wettbewerb teilzunehmen", schreibt er. Der KJB zeigt sich interessiert. Man kommt miteinander überein, dass eine Jury mit Mehrheit des KJB über einen liechtensteinischen Act entscheiden soll. Diese Jury solle verhindern, "dass bei einer bedingungslosen Zusage an den Initianten der Name unseres Landes einmal mehr durch das Massenmedium Fernsehen lächerlich gemacht werden könnte oder für private Interessen missbraucht werde".
Doch dieser erste Anlauf schlägt fehl, aus zwei Gründen. So kommt das Gerücht auf, dass der Sänger Vico Torriani laut "Kölner Express" der ESC-Kandidat Liechtensteins 1974 werde. Beim KJB ist man verärgert, dass dieser "Ex-Koch" das Land entgegen aller Absprachen vertreten soll. Walser versucht zu beruhigen, er habe mit Torriani gesprochen, die Meldung sei falsch, und bittet die Verantwortlichen, trotzdem eine Teilnahme zu forcieren - der liechtensteinischen Jugend zuliebe. Gleichzeitig stellt die EBU aber klar: Liechtenstein ist kein Mitglied der Rundfunkunion, eine Teilnahme sei deshalb ausgeschlossen.
Zwei Teilnehmerinnen bei Liechtensteins Auswahl
Doch den Kultur- und Jugendbeirat packt zwei Jahre später ungeachtet dessen wieder das ESC-Fieber. Er beantragt am 26. September 1975 ein Auswahlverfahren mit einer Jury für Liechtensteins ESC-Teilnahme 1976 - und beruft sich auf "interessierte Kreise in unserem Land". Am 4. November stimmt die Regierung zu. Einen Tag später schaltet der KJB Anzeigen in den liechtensteinischen Tageszeitungen "Vaterland" und "Volksblatt", um einen passenden Beitrag zu finden. Einsendeschluss ist bereits zwölf Tage später. Es melden sich vier interessierte Künstler. Die Hälfte von ihnen sagt wegen der zu kurzen Zeit wieder ab, bleiben also: Die gebürtige Französin Anne Frommelt, die mit der selbst geschriebenen Ballade "Tu étais mon clown" an den Start gehen will, sowie Biggi Bachmann mit dem Song "My Little Cowboy". Auf dem Anmeldeformular heißt ihr Titel zuerst "Music Man", dieser wurde aber handschriftlich geändert. Texter des Songs ist Mike Tuttlies aus San Diego, der Anfang der 70er als DJ in Deutschlands erster Großraumdisco, dem "Blow Up" in München, auflegt, und später bei Ralph Siegels Label Jupiter Records arbeitet. Komponist ist der Deutsche Horst Hornung, der zeitweise mit ESC-Teilnehmerin Ramona Wulf von Silver Convention verheiratet ist. Später zieht sich Hornung aus dem Musikgeschäft zurück und wandert nach Ko Samui aus, um dort ein Hotel zu leiten. Bis heute lebt er in Thailand. Er sagt, das Schlagerlabel Ariola habe damals den Kontakt nach Liechtenstein vermittelt.
Biggi Bachmanns Spuren verlieren sich in den 80er-Jahren
Bei Ariola erinnert man sich auf Anfrage nicht mehr an Biggi Bachmann. Fast alles, was bisher öffentlich über die Sängerin bekannt ist, haben Nutzer eines Forums des Online-Websenders "Memoryradio" zusammengetragen. Biggi Bachmann wird am 6. August 1959 als Uta Christine Schädler in Eschen in Liechtenstein geboren. Erste Schallplattenaufnahmen macht sie Anfang der 70er-Jahre unter dem Namen Wiebke Ling. 1975 bewirbt sie sich bei der Zeitschrift "Bravo" als "Mädchen des Jahres" und kommt unter die besten zehn. Ein Jahr später taucht sie in einer Dokumentation des Schweizer Fernsehens über das Schlagerbusiness auf. Unter dem Künstlernamen Biggi Bachmann veröffentlicht sie 1975 und 1979 zwei Schallplatten bei Ariola. Außerdem singt sie in den Disco-Girlgroups Pretty Maid Company und Shanghai sowie unter dem Namen Biba englischsprachige Dancesongs.
Jury entscheidet sich für "My Little Cowboy" - trotz Bedenken
Zurück ins Jahr 1975, es wird spannend! Am Donnerstag, den 20. November findet um 10 Uhr die Auswahl in der Liechtensteinischen Musikschule in Vaduz statt. Insgesamt 927,65 Schweizer Franken kostet das ganze Verfahren den Staat. Drei Juroren treffen sich und bewerten die unveröffentlichten Lieder, die sie auf Tonband zu hören bekommen. Mit dabei sind der mittlerweile verstorbene Komponist Tibor Kasics, außerdem Fritz Jurmann vom ORF in Vorarlberg und Jörg Schoch, Inhaber einer PR-Agentur in der Schweiz. In einem Brief an die Regierung schreibt der KJB, die Jury sei zu folgendem Schluss gekommen: "Für den Anlass wesentlich geeigneter erschien in Art und Weise der Komposition wie des Vortrages das Liedchen 'My little Cowboy' von Biggi Bachmann, vulgo Uta Schädler, auch wenn der Text wesentlich oberflächlicher ist als im Chanson von Frau Frommelt. Somit empfiehlt die Jury folgendes: Eine Teilnahme Liechtensteins beim Grand Prix d'Eurovision kann grundsätzlich befürwortet werden. Als Vertreterin des Landes wird - wenn auch mit einigen kleinen Bedenken - Fräulein Schädler empfohlen." Seitdem ist Biggi Bachmann Teil der ESC-Familie.
ORF-Journalist Fritz Jurmann schreibt damals über die Ausscheidung in der Musikzeitschrift "Artist" und vergleicht den Song von Biggi Bachmann textlich und musikalisch mit dem Schlager "Ich will 'nen Cowboy als Mann" von Gitte. KJB-Leiter Harald Wanger lässt sich von ihm so zitieren: "Ich glaube nicht, daß wir hier nun sehr große Erwartungen haben dürfen." Doch selbst wenn es beim ESC ein "ehrenvoller letzter Platz" werde, so sei er zufrieden, dabei gewesen zu sein. Autor Fritz Jurmann sagt heute, die Juroren seien damals enttäuscht gewesen. Beide Kandidatinnen hätten "eigentlich kaum Ansätze jener Eigenschaften, die man doch für eine professionelle Teilnahme an einem internationalen Schlagerwettbewerb erwarten können muss" gezeigt. Die 16-jährige Biggi Bachmann sei ihm noch zu unerfahren gewesen. Juror Jörg Schoch weiß heute nichts mehr über Song oder Interpretin - und selbst Komponist Horst Hornung gibt zu: "Leider kann ich mich auch nicht mehr an den Titel erinnern. Er war anscheinend eh nicht das Gelbe vom Ei."
Missverständnis mit der EBU: Liechtenstein braucht einen Sender
Dennoch: Ein Lied für Den Haag aus Liechtenstein ist gefunden! Am 26. November 1975 beschließt die liechtensteinische Regierung, Biggi Bachmann für den ESC anzumelden. Leider weiß in Vaduz noch immer niemand, wie genau man das eigentlich macht. Anfang Dezember bittet der KJB die EBU, die Statuten der Organisation zu schicken. Die EBU übersendet ein entsprechendes Heftchen sowie die erwartete Mitgliedschaftsgebühr für 1976. Zusammen mit der Liechtensteinischen Botschaft in Bern (die in einem Schreiben den ESC mit der Spielshow "Spiel ohne Grenzen" verwechselt), werden die Regeln interpretiert. Sowohl hierbei als auch bei einem Telefonat mit dem Schweizer Rundfunk fällt schließlich auf: Nicht einzelne Länder, sondern nur deren Rundfunkanstalten können EBU-Mitglied sein. Die Schreiben der EBU wurden bislang missverstanden. Liechtenstein könne Mitglied der EBU werden - aber eben erst, wenn das Land einen eigenen Sender hat. Doch dieser existiert nicht, Liechtenstein wird zu diesem Zeitpunkt medial über die Schweiz versorgt. Juror Fritz Jurmann findet heute, die liechtensteinischen Verantwortlichen hätten damals "völlig unbedarft und ein bisschen dilettantisch" gehandelt, sich nicht eher Klarheit über die Teilnahmevoraussetzungen zu verschaffen. Am 21. Januar 1976 informiert die Regierung den KJB, dass ein eigener Sendebetrieb so kurzfristig nicht schaffbar ist und sagt Liechtensteins Teilnahme ab. Der liechtensteinische Eurovisionstraum ist geplatzt.
Biggi Bachmann betreibt eine Künstleragentur in der Schweiz
Doch Biggi Bachmanns träumt noch ein wenig weiter. 1979 versucht sie sich im Schweizer ESC-Vorentscheid mit "Musik, Musik" und wird Sechste. Bachmanns letzte Veröffentlichungen stammen aus dem Jahr 1980. Bei der Kulturstiftung Liechtenstein, der Nachfolgeorganisation des KJB, ist das ESC-Vorhaben von 1976 heute völlig unbekannt. Die stellvertretende Geschäftsleiterin Brigitte Weber forscht aber nach. Sie findet heraus: Biggi Bachmann spielt 1975 noch Saxophon im Blasmusikverein in Triesen. Sie tritt in Bars auf und spielt unter dem Intendanten Alois Blüchel 1982 im Stück "Ich steig aus" am Theater am Kirchplatz, dem wohl bedeutendsten Theater in Liechtenstein. Danach ist nichts mehr über sie zu finden.
Doch im Archiv des Schweizer Rundfunks weiß man noch von Biggi Bachmann - und was aus ihr wurde. Mittlerweile heißt sie Uta Stürzel und betreibt seit 1993 in Chur in der Schweiz mit ihrem Mann eine Musik- und Artistenagentur, in der sie zuvor selbst unter Vertrag war. Über ihre Anfänge möchte Biggi Bachmann heute nicht mehr so gerne sprechen, schreibt aber, sie habe keine Aufnahme mehr von "My Little Cowboy". Gleiches gilt auch für die Juroren, die Kulturstiftung Liechtenstein und Horst Hornung: "Ich glaube nicht, dass es davon noch irgendetwas gibt", schreibt der ehemalige Komponist aus Thailand. Der Song bleibt verschollen.
Liechtenstein hat einen Sender - aber kein Interesse mehr am ESC
Seit Gründung von Liechtensteins erstem Fernsehsender 1 FL TV im August 2008 gibt es immer wieder die Absicht, beim ESC teilzunehmen. Doch immer scheitert es an hohen Teilnahmegebühren oder fehlender Medienförderung seitens des Staates. Für den ESC 2011 in Düsseldorf hat 1 FL TV die Teilnahme beantragen wollen. Als Interessent wurde Sänger und Produzent Al Walser gehandelt - der Enkel von Werner Walser, der 1973 als erster eine Teilnahme anregte. Al Walser, der in Los Angeles lebt und arbeitet, soll 2005 laut Schweizer Zeitung "20 Minuten" schon Janet Jackson davon überzeugt haben, für die Schweiz beim ESC zu starten. Der Schweizer Rundfunk dementierte umgehend. Mittlerweile ist das liechtensteinische Interesse am Eurovision Song Contest wieder abgeflaut. Ein Debüt gibt es auch 2021 nicht. 1 FL TV ist bis heute kein Mitglied der EBU. Und die Erinnerungen an Biggi Bachmann und die Fast-Teilnahme sind nahezu erloschen.
Update: Zuerst stand in dem Text, der Vorentscheid 1975 habe in Schaan stattgefunden. Neue Indizien weisen auf die Musikschule in Vaduz hin.