ESC-Finale bald um 20 Uhr?
In der schwedischen Zeitung "Dagens Nyheter ist zu lesen, dass der ESC-Produktionschef Martin Österdahl mit dem Gedanken spielt, den Songcontest 2016 in Stockholm eine Stunde früher beginnen zu lassen. Bisher startete der Contest um 21 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Dann wäre es in Ländern wie Russland, Aserbaidschan, Georgien und Armenien nicht so spät in der Nacht, wenn der ESC beginnt - und so frühmorgens, wenn er endet.
Die Idee wird von der Plattform "eurovoix" aufgegriffen. Tatsächlich wäre 20 Uhr als Auftakt der Show identisch mit dem Beginn des schwedischen Melodifestivalen, der Vorentscheidung des Landes. Doch das Argument, die einst intervisionären Länder (jene, die zur Senderkette des sozialistischen Blocks zählten) kämen immer nur spät am Abend in den Genuss der Show, zählt nicht so recht. Richtig ist, dass es in Moskau 22 Uhr ist, wenn der ESC beginnt. Und in Baku in Aserbaidschan gibt es gar drei Stunden Zeitunterschied zu Mitteleuropa. Als das Finale dort vor gut drei Jahren abgehalten wurde, war es schon Mitternacht. In der Tat: Die kaukasischen Länder haben es sehr, sehr late-night-haft, wenn das "Te Deum" von Marc-Antoine Charpentier ertönt, die klassische Eurovisionshymne.
Aserbaidschan hatte kein Problem
Aber, ich erinnere es genau, aserbaidschanische Bekannte sagten mir, dass die späte Uhrzeit in ihrem Land niemanden störe. Das Leben nach der Arbeit in diesem eher südlichen Land beginne ohnehin erst in der späteren Nacht. Beim Finale in Baku waren die Aserbaidschaner in Bars und Kneipen unterwegs, sie flanierten auf dem Bulvar am Kaspischen Meer - keine Zeichen von Müdigkeit, weil der ESC erst zum Anbruch des neuen Tages anfängt.
Die echten Probleme beginnen gleichwohl in Mitteleuropa. Für die ARD wäre ein ESC-Beginn um 20 Uhr faktisch eine Kapitulation vor allem, was das Publikum gewohnt ist. Am 14. Mai kommenden Jahres, dem Tag des Eurovisionsfinales, endet die aktuelle Saison der Fußballbundesliga. Selbst wenn Bayern München wieder mit deutlichem Vorsprung Meister würde - was ich nicht glaube -, liefe die "Sportschau" bis kurz vor 20 Uhr. So lange braucht es, um den letzten Spieltag journalistisch aufzuarbeiten. Und auch die folgende "Tagesschau" ist nicht ohne. Keine Katastrophe sei herbeigeredet, aber: Am 13. Mai 2000, dem ESC-Finale von Stockholm, ging eine niederländische Feuerwerkskörperfabrik in Enschede in die Luft. Im Anschluss an die "Tagesschau" gab es einen ARD-Brennpunkt, der die folgende ESC-Vorglüh-Party in der ARD verkürzte.
Nachrichtenverschiebung - wozu?
Mit anderen Worten: Die "Tagesschau" als Nachrichtenblock ist gesetzt - und die läuft um 20 Uhr, so lautet der kulturelle DNA-Code der Deutschen seit vielen Jahrzehnten. Um nicht missverstanden zu werden: Als politisch und nachrichtenmäßig stark interessierter Mensch möchte ich jedenfalls auf keinen Fall, dass die zentralen Abendnachrichten verschoben oder gar storniert werden.
Begänne der ESC um 20 Uhr schwedischer Zeit, wäre es im Ausstrahlungsgebiet der BBC 19 Uhr. Dann wäre der Contest dort keine glamouröse Abendshow mehr, sondern ein Vorabendprogramm. Das wiederum kann niemand wollen: Die BBC repräsentiert immer noch den wichtigsten Popmarkt Europas mit Einfluss auf die gesamte englischsprachige Welt.
Insofern: Mag sein, dass 20 Uhr als ESC-Auftakt für notorische Früh-ins-Bett-Geher erleichternd wäre. Denn der Schlaf vor Mitternacht soll ja der gesündeste sein. Aber, Spaß beiseite: Es ist leider schon mit so vielen ESC-Traditionen gebrochen worden: kein Orchester mehr, nur noch selten Landessprachen, die Punktewertung nicht mehr nach Zufallsreihenfolge, sondern nach regiegewolltem Spannungsgehalt. Diese Änderung aber wäre nun wirklich zuviel.
Man möge von dieser sogenannten Reform also lassen. Hinter ihr steckt mehr schwedisches Eigeninteresse des ausrichtenden Senders SVT, weniger Rücksicht auf Osteuropa.