Trübe Tage in Schonen 1992
Die Proben haben begonnen, gut so. Wie mein Freund Maximilian sinngemäß schrieb: Es geht jetzt echt dem Finale entgegen. Aber wie war das, als in Malmö schon einmal ein ESC stattfand? Schon vor 21 Jahren hat Malmö, diese Stadt am unteren linken Eck Schwedens, für den ESC “the host city” gegeben, den gastgebenden Ort. Ich erinnere mich gut an diesen Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie er damals in Deutschland noch genannt wurde, es war mein erster internationaler überhaupt. Damals war unklar, weshalb es gerade die Hauptstadt der Provinz Skane sein sollte – zu deutsch Schonen, ein Teil Schwedens, in dem ein besonders mulschig-qualmiger Dialekt der Sprache des Landes gesprochen wird. Man könnte sagen: Ein Schwedisch, das im Dreikronenland so klingt, wie das Schwäbische oder Sächsische in hochdeutsch gestimmten Ohren: seltsam.
Malmö sollte es sein, weil die “Schlager-EM”, wie es in schwedischen Boulevardzeitungen hieß, in Stockholm nicht willkommen war und Göteborg ausschied, denn dort fand die Show bereits sieben Jahre zuvor statt. Es war ein außergewöhnlich moderner Eurovision Song Contest (ESC), aber in gewisser Hinsicht nicht der Lieder wegen. Modern war dieser Wettbewerb, der ja in Schweden ausgetragen werden durfte auf Grund des Vorjahressiegs der fabulösen Carola Häggqvist, in anderer Hinsicht: Erstmals waren Fans in größerer Menge vertreten – und es war noch nicht die Ära des Internets, das zu mobilisieren und damit zu kommunizieren erst seit des ESC 1999 in Israel möglich war.
Malmö – da reiste man mit krassem Aufwand hin. Manche mit dem Zug bis Kopenhagen, von dort mit dem Bus bis zum dänischen Fährhafen Dragör, wo ein Turboschiff bis Limhamn fuhr – von dort bis Malmö war es dann nur noch eine halbstündige Angelegenheit. In der Eishalle sollte der musikalische Wettstreit stattfinden – und der Name traf den Charakter der Halle innen ziemlich gut. Etwa 80 bis 100 Journalisten waren zugegen, die meisten von ihnen Fans, die über Lokalradios, Lokal- oder Anzeigenblätter, den Mitteldeutschen Rundfunk oder andere europäische Sender eine Akkreditierung beantragt hatten. Es war ein Arrangement, wie es gemütlicher und familiärer nicht hätte sein können. Die Akkreditierungen waren nicht unterteilt – Fans wie Journalisten hatten die gleichen, und man konnte mit dem Plastikschild beinah grenzenlos überall herumgucken. Bis auf die Bühne, einem Wikingerschiff.
Man tauschte unter Journalisten und Fans Fanhefte, die ersten, die es damals gab, noch nicht auf Hochglanz getrimmt, sondern hektografiert auf farbigem Papier. Alles gierte nach Informationen, nicht nur, was den ESC in Malmö anging. Vorentscheidungsstatistiken aller Länder, aller Jahrgänge – man tuschelte und barg Informationen, die tief begraben schienen. Im Eisstadion bewegten sich Künstler, Tonsetzer und Texter unter allen anderen. Ralph Siegel, Komponist von “Träume sind für alle da”, bewegte sich besonders häufig um einen Flipchartständer, auf dem die neuesten Wetten verzeichnet waren – guckend, ob sein Lied hoch gewettet wird. Ja, das war der Fall – und es lag schon damals die Möglichkeit nicht fern, dass der Meister selbst viele Fans beeinflusst hatte, um ihnen schon vor dem eigentlichen Festivalabend ein gutes Gefühl zu bereiten. Dass er nach dem Finale enttäuscht war, seine “Wind“-Maschinen mit kärglichem Punktkonto zerbröselt wurden, ist eine andere Geschichte.
Aber: man erreichte Malmö nicht nur beschwerlicher als in diesem Jahr. Es gab nämlich noch nicht die Brücke zwischen Dänemark und Schweden – es begann auch erst am Montag vor dem ESC-Finale. Keine zwei Wochen mussten die Delegationen untereinander bleiben, sondern eben nur sechseinhalb Tage. Und wie Malmö aussah? Lange nicht so schnieke-modern wie heute. Ein, so mein Eindruck, im Vergleich mit dem heutigen Bild leeres Städtchen. Die Eisenbahn endete hier, ein Sackbahnhof, hinter dem die Ostsee begann.
Das Wetter in dieser Woche – frisch und absolut fern allem Frühling. In einer Disco, deren Name mir auch nach längerem Grübeln entfallen ist, gab es allabendlich eine Tanzveranstaltung. Viele der Akkreditierten waren da, aber die Musik wurde nicht von ESC-DJs ausgesucht, sondern von den hausüblichen Diskjockeys. Bloß keine ESC-Mucke – nur manchmal war ein Liedchen erlaubt. Aber tanzbar war ohnehin nix so richtig: Keiner der Fans oder Journalisten hatte das Gefühl, einer der populärsten Shows Europas hinterherzurecherchieren. Warum ich selbst begann, mich als Journalist mit dem Wettbewerb professioneller zu befassen? Weil mir nicht einleuchtete, dass ein Event, das jedes Jahr mehr als hundert Millionen Leute in zweieinhalb Dutzend Ländern interessiert, einfach in journalistischer Hinsicht unbeleuchtet bleiben soll. Wie tickt das Ganze hinter und vor den Kulissen? Und noch dies für die erste Folge meiner Erinnerungen, die letzte meiner Fragen damals: Woran liegt es, dass von den Journalisten und Fans, die damals dabei waren, bis auf gewiss einige Ausnahmen, alle schwul waren? Und warum man das nicht sagen durfte? Ist ja bis heute so geblieben, weitgehend, was den Kern angeht.
Malmö im Mai 1992 war ein kühles Unterfangen. Aber längst war alles ausgeschlüpft, was im Laufe der Jahre Bedeutung haben würde: Fans, die sich in Europa und teils auch weltweit um dieses Event scharen. Das wurde dann irgendwann wie beim Fußball. Noch hatte die Journalistengemeinde das Gefühl, selbst Teil einer Freakshow zu sein. Malmö war ein Aufbruch. Pressekonferenzen mit Fragen wie: “Sagen Sie, Ihr Lied ist wunderbar, könnten Sie sagen, ob es dies auch in portugiesischer Fassung geben wird?”, an die Adresse Linda Martins aus Irland, der späteren Siegerin. Oder: “Haben Sie einen Gruß für Ihre Fans in Finnland?”, an die Adresse Mia Martinis aus Italien. Ihr Lied “Rapsodia” landete weit vorne. Wie sah sie toll aus bei der After Show Party, ketterauchend, absolut edel und fern aller übertriebenen Heiterkeit, großartig. Die Fankultur war geboren.