Stand: 27.06.2016 12:15 Uhr

Nach Brexit: Wird Schottland neues ESC-Land?

Die britische Volksabstimmung zum Austritt aus der EU hat für den Eurovision Song Contest keine direkten Folgen. Die European Broadcasting Union (EBU) in Genf, das Netzwerk der öffentlich-rechtlichen Sender Europas, gehört nicht zur EU - ebenso wenig wie der europäische Fußballverband Uefa. Für die britische BBC spielt der Brexit in eurovisionärer Hinsicht also gar keine Rolle, denn sie ist als Institution unabhängig von der EU.

Und doch fällt dies auf: An (fast) allen ESC-Orten des United Kingdom war die Ablehnung des EU-Austritts der Fakt. In der City of London (ESCs 1960, 1963, 1968, 1977) stimmten 75,3 Prozent gegen den Brexit, in Brighton (1974) waren es 68,6 Prozent, in Harrogate (1982) wollten 51 Prozent nicht aus der EU aussteigen - nur im englischen Birmingham (1998) entschieden sich 50,4 Prozent gegen die EU. In der schottischen Hauptstadt Edinburgh (1972) votierten 74,4 Prozent für den Verbleib in der EU. (Übersicht aller lokalen Ergebnisse auf bbc.com). Mir scheint, mit der Ausnahme Birminghams sind die legendären ESC-Orte des United Kingdom ziemlich pro-europäisch - mit der Haupstadt London an der Spitze, aber die lebt ohnehin von europäischer Durchmischung, knapp gefolgt von Edinburgh. Schottland ist seit jeher der Teil Großbritanniens, der strikt mit großer Mehrheit zur EU gehören wollte und will.

Schotten wollten Distanz zu England, nicht zur EU

Die schottische Fahne und der Union Jack des Vereinigten Königreichs © imago stock&people
2014 entschieden sich die Schotten im Unabhängigkeits-Referendum für den Verbleib im Vereinigten Königreich. Nach dem Brexit Großbritanniens bereitet die schottische Regierung jetzt ein zweites Referendum vor.

Aber dies zur Erinnerung: Vor zwei Jahren wollte Schottland unabhängig werden. Das Hauptargument vieler, die zwar auf schottische Distanz zu England (und damit zu London) gehen wollten, aber EU-freundlich waren: Schottland wäre mit seiner Unabhängigkeit nicht mehr Teil der Europäischen Union sein. Inzwischen ist gewiss, dass es abermals ein Unabhängigkeits-Referendum geben wird: Denn den Brexit wollten die allermeisten Schotten (und Nordiren) nicht, aber die Waliser und vor allem die Engländer. Vom nun einzuleitenden Austritt aus der EU ist zwangsweise auch Schottland betroffen - und genau das wollen die schottischen Bürger und Bürgerinnen nicht.

Alyn Smith, Mitglied des EU-Parlaments seit 2004, forderte kürzlich, dass dieESC-Verantwortlichkeiten in Großbritannien rotieren sollen. In einem Jahr liegt sie in England, dann in Schottland, schließlich in Wales, danach in Nordirland. So hätte Schottland auch die Chance, für ein besseres Abschneiden des United Kingdom Sorge zu tragen. Vor zwei Jahren gehörte dieser Abgeordnete, der mit dem Austritt Großbritanniens auch aus dem EU-Parlament ausscheiden muss, zu jenen, die eine Initiative unterstützten, welche eine autonome ESC-Beteiligung Schottlands wünschten.

Schottland braucht für ESC eigenen Sender

Lulu vertritt Grossbritannien 1969 beim Grand Prix und belegt gleichzeitig mit 4 anderen Interpreten den 1. Platz © Picture Alliance Foto: Europa Press
Die Schottin Lulu gewann 1969 den ESC in Madrid mit "Boom Bang A Bang".

Schottland hat wenige, trotzdem ruhmreiche ESC-Acts hervorgebracht - davon abgesehen, dass der ESC 1972 in Edinburgh zu den glanzvollsten der ganzen ESC-Geschichte gehört, mit Vicky Leandros ("Après toi") als Siegerin jenes Jahres. Die prominenteste Schottin der britischen ESC-Geschichte ist Lulu, mit "Boom Bang A Bang" Siegerin 1969 in Madrid, aber auch Scott Fitzgerald mit "Go" (1988 in Dublin) soll mit seinem zweiten Platz nicht verschwiegen werden. Kenneth McKellar ("A Man Without Love") war der einzige britische BBC-Beitrag, der im schicken Schottenrock vorgetragen worden war, allerdings erntete er dafür 1966 in Luxemburg nur geringe Anerkennung, nämlich den neunten Platz mit nur zwei Wertungen (aus Irland und Luxemburg).

Die BBC ist das öffentlich-rechtliche Netzwerk des Vereinigten Königreichs - mit je eigenen Programmen in seinen Landesteilen, ähnlich wie der NDR, der RBB oder der WDR für ihre Bundesländer: Schottland bräuchte ein eigenes Netzwerk, sollte es unabhängig werden. Und dann müsste dieses Mitglied der EBU werden - dann erst wäre es möglich, dass Schottland mit eigenen Kandidaten, unabhängig von den BBC-Acts, beim ESC antreten kann.

Annie Lennox bei ihrem Auftritt am 4. Juni zu Ehren des Thronjubiläums von Queen Elizabeth. © dpa picture alliance Foto: Ian West
Die schottische Musikerin Annie Lennox hat sich 2014 für die Abspaltung Schottlands von Großbritannien eingesetzt.

Im Übrigen stammen wahnsinnig viele tolle Musiker und Musikerinnen aus Schottland: Franz Ferdinand, die Proclaimers, The Incredible String Band, um nur von den hippen zu sprechen. Aber auch Lulu, Amy Macdonald, Jimmy Somerville, Donovan, Sheena Easton, Annie Lennox oder, meine Lieblingsband, die Bluebells mit ihrem "Young At Heart". Alles in allem: Dudelsack mit allen Einflüssen, die gut und schön sind in der Welt der kulturellen Einflüsse. Es wäre ein Gewinn.

P.S.: In Sachen ESC und schottische Autonomie schrieb ich auch an einen der langjährigsten ESC-Beobachter aus Großbritannien. Es ist David Elder und er lebt mit seinem Mann in Edinburgh. Er antwortete mir via Facebook: "Die schottische Frage zum ESC ist in der Tat interessant. Es gibt momentan eine Menge Ärger und Frust in Schottland - mit der britischen Regierung in London. Denn wir haben ganz klar für den Verbleib in der EU gestimmt. Aber es ist ziemlich unsicher, ob es ein neuerliches Referendum in Schottland zum Austritt aus dem United Kingdom gibt. Traurigerweise ist Schottland von Experten attestiert worden, dass, wäre die Autonomie vor zwei Jahren ermöglicht worden, wir schon bankrott wären. Und ich denke, dass der Brexit keinen Einfluss auf den nächstjährigen ESC in der Ukraine haben wird. Großbritannien wird dabei sein im nächsten Mai. Ob irgendwelche europäischen Nachbarn noch für uns stimmen werden, ist andere Frage."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 14.05.2016 | 21:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

2016

Großbritannien (UK)