Schluss mit dem Genörgel über Jamalas Sieg!
Kein ESC ohne Gemecker danach. Dieses Jahr war es freilich besonders hartnäckig. Die Vorwürfe lauteten ungefähr so: Jamala habe ihr Lied schon vor dem 1. September des Vorjahres gesungen, das sei nach den Wettbewerbsstatuten des ESC verboten. Und: "1944" habe weder die Jurywertung noch das Televoting gewonnen. Vielmehr lagen bei den Jury-Experten aus dem musikindustriellen Komplex die Australierin Dami Im und beim Publikum der Russe Sergej Lazarev vorn.
Trotz der hitzigen Debatte: Fakt ist, Jamala hat gewonnen, knapp hinter ihr landeten die Australierin und der Russe. Sie hat in beiden Wertungen jeweils den zweiten Platz erobert. Das heißt: Die Fachleute aus 42 Ländern hatten sie ebenso vorn wie die Zuschauer bei ihren Abstimmungen. Dami Im hatte schließlich nicht die Nase vorn, weil sie beim Publikum auf dem vierten Rang landete, Sergej Lazarev musste sich bei den Jurys insgesamt mit Platz fünf begnügen.
Diese Regeln galten, keine anderen
Es ist wie bei sportlichen Entscheidungen, deren Resultat sich aus mehreren Übungen zusammensetzen. Bei den Bundesjugendspielen in meiner Schulzeit war es so: Wer prima laufen und springen konnte, aber beim Werfen nichts als eine Niete war, bekam keine Urkunde der Anerkennung. Jamala hat in der Addition beider Wertungen die Nase vorn gehabt.
Dass besonders russische Medien der Ukraine in Sachen ESC-Sieg die Legitimität absprachen, muss nicht besonders kommentiert werden: Jedes Land leckt seine Wunden hinterher, wenn es nicht so lief, wie man es erhoffte. Verfehlt ist jedenfalls auch der Hinweis in verschiedenen Foren, in den ESC-Jahren, als andere Abstimmungsregeln galten, hätte Jamala mit "1944" nicht gesiegt. Nun, kurz zusammengefasst: Aber dieses Jahr galten eben diese und keine anderen Regeln - was alle wussten und nicht vorher monierten.
Von Sergej Lazarev und Dami Im kam übrigens bislang keine Silbe, sie seien die eigentlichen Sieger. Der Russe hat in seinem Land einen starken Hit, die Australierin freut sich, dass ihr Lied in viele Charts geklettert ist. Gut so, Respekt! Aber Sieger sind sie eben nicht geworden. Nebenbei: Eine, die vielleicht wirklich Grund zur Klage gehabt hätte, die Französin Amina nämlich, äußerte nie ein Wort gegen die Schwedin Carola, die 1991 gewann - punktgleich mit der Französin. In den Jahren darauf wäre die Sängerin von "Le dernier qui a parlé" bei ebenso vielen Punkten zur Siegerin gekürt worden, vor 25 Jahren galt aber das System, was da eben galt. Insofern: Carola ist, obwohl aus meiner heutigen Sicht ihr "Fångad av en stormvind" das schwächere Lied war, die Siegerin gewesen - und ist es bis heute. Aus der Hall of Fame des ESC kann sie nicht mehr vertrieben werden.
Nach meinem Dafürhalten: Das neue Abstimmungssystem hat sich als äußerst spannend erwiesen, es möge beibehalten werden. Gut auch, dass zuerst die Jurys einzeln ihre Ergebnisse einspeisen konnten, die Zuschauervotings im Paket danach. Man stelle sich vor, zuerst wären die Publikumsvorlieben vorgetragen worden, danach erst die der Jurys. Es hätte immer geheißen, die Jurys hätten das letzte Wort gehabt - also die Zuschauer überstrahlend. Nein, das möge so beibehalten werden.
Keine Kopie, sondern ein Original
Der zweite Grund der grundsätzlichen Kritik am ukrainischen Sieg wiegt schwerer. Es heißt, "1944" sei vorfristig, also bereits vor dem 1. September 2015 vorgetragen worden. Das stimmt in gewisser Hinsicht. Jamala trug Fragmente ihres späteren Liedes - aber mit einem anderen Text, in anderer Instrumentierung - bei einer privaten Feier vor, im Netz verbreitet an eine kleine geschlossene Gruppe. Das YouTube-Video ist inzwischen nicht mehr abrufbar.
In Wahrheit ist auch dieser Hinweis auf die Regelverletzung infam. Denn die Fristregel war und ist dafür gedacht, dass zum ESC nicht ein Lied eingereicht wird, welches schon ein starker Hit war. Der Song soll beim Festival nicht davon zehren, überall in Europa schon wohlbekannt zu sein. Nie ist von den Autoren des Regelwerks daran gedacht worden, alle Kompositionen auszuschließen, die vor dem 1. September erdacht wurden. Die meisten ESC-Lieder gab es in Rohentwürfen schon vor der Frist. Jamalas "1944" ist ein Lied, das für die ukrainische Vorentscheidung produziert wurde und unmittelbar davor als ESC-Beitrag der Ukraine an Mischpulten zurechtgefummelt wurde.
Nebenbei: Jamala gewann mit diesem Lied nicht die Experten ihres Landes. Das Publikum schickte sie nach Stockholm: ein Zeichen für die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens. Hätte "1944" schon vor dem 1. September in der Ukraine Hit-Status erreicht, wäre eine ESC-Teilnahme nicht möglich gewesen.
Wie dem auch sei: Jamala hat ein womöglich auch politisch ergreifendes, auf alle Fälle ein ästhetisch außergewöhnlich gutes Lied präsentiert - und es hat gewonnen. Schön für den ESC, dass dieses Mal keine Standardware belohnt wurde.