Heldin einer Nacht: Sandie Shaw
Die Zeitungen im Vereinigten Königreich überschlugen sich am Tag nach dem Eurovision Song Contest 1967 in Wien: Erstmals gewann es, Großbritannien mit Nordirland, den ESC. Und das auch noch mit weitem Abend zu allen anderen: Siegerin Sandie Shaw hatte mit ihrem Lied am Ende mehr als doppelt so viele Punkte (47) wie die nächstplatzierten Acts, der Ire Sean Dunphy mit der Schnulze "If I Could Choose" (22) und die Französin Noëlle Cordier mit "Il doit faire beau là-bas" (20).
Es war gewiss einer der schmuckesten ESCs jemals: Austragungsort war der Festsaal der Wiener Hofburg, ein Refugium, in das niemand ohne großbürgerliche Abendgarderobe einzutreten wagte. Das architektonische Ensemble aus habsburgisch-imperialen Zeiten, nach dem Zweiten Weltkrieg Sitz des österreichischen Bundespräsidenten, war einst die Winterresidenz des habsburgischen Kaiserpaares: Jetzt gastierte der ESC, der zwölfte seit seiner Premiere 1956 in Lugano, in diesen Räumen. Es sollte auch eine Mahnung sein, gediegene Musik zur Aufführung zu bringen, nicht modernen angloamerikanischen Stoff, etwa Beat oder gar Pop.
Vielsprachigkeit in Wien
Moderatorin Erika Vaals nahm die eurovisionäre Internationalität des ESC sehr, sehr ernst. Aufzeichnungen belegen, dass sie sich tapfer in ihrer Rolle vielen Sprachen widmete, Deutsch, Englisch und Französisch natürlich, aber auch Italienisch und Spanisch. Es war, streng genommen, ein Traum für jeden ESC-Fan, der auf Multilingualität hält und heutzutage viel Kummer hat, weil alle meist auf Englisch ihre Liedangebote parat halten: Der ESC in der Hofburg war ein Fest der Vielsprachigkeit.
Der deutsche Beitrag, nicht aus einer Vorentscheidung hervorgegangen und vom Hessischen Runkfunk ausgesucht, war der von Inge Brück: Sie sang das schmachtende "Anouschka", eine Wehmutsschnulze, die, schönem Gesang der Brück zum Trotz, mit sieben Punkten nur auf dem achten Platz landete. Ein Hit wurde diese Nummer natürlich nicht, viele ESC-Fans mögen es zurecht jedoch bis heute.
Siegerin mochte "Marionetten"-Lied nicht
Sandie Shaw, in ihrer Heimat schon vor dem ESC eine der tonangebenden Figuren der Beatkultur in London, mochte, Ironie dieser Siegesgeschichte, "Puppet On A String" gar nicht: Sie sei niemals eine Marionette irgendeines Mannes (und um Mann-Frau-Verhältnisse ging es aus der Perspektive von Frauen damals immer), und sie fände überhaupt die ganze Sache albern und anspruchslos. Ihr Team wusste es besser, der Komponist und ihr Management: Dieser britische Beitrag war eingängig nach den ersten Tönen, ohne zu verstören, mitreißend und sympathisch. Die Shaw trat, was kein Kommentator verschwieg, barfüßig auf: Das musste als Zeichen für Coolness verstanden werden, als Signal, dass sie mit der gewissen Steifheit, die sonst bei allen ESCs inszeniert worden war, nicht viel am Hut hat. Anhaltender Beifall auch in der Wiener Hofburg durch das Saalpublikum war der Lohn.
Sandie Shaw war mit diesem Sieg beim Eurovision Song Contest über Nacht ein europäischer Star geworden: Ihr Lied - das sie unter dem Titel "Wiedehopf im Mai" auch auf Deutsch einsang - war in vielen Charts hoch dotiert, es verkaufte sich glänzend: Das Vereinigte Königreich galt fortan als sichere Bank für exzellente europäische Popmusik auch beim ESC.
Vicky Leandros enttäuscht von Platz 4
Die kommerziell fetteste Ausbeute aber machte die Hamburgerin Vicky Leandros, die für Luxemburg mit "L'amour est bleu" an den Start ging und auf den Sieg in Wien hoffte. Aber sie wurde nur, zu ihrer großen Enttäuschung, Vierte (17 Punkte). Das Chanson verkaufte sich dennoch langfristig am besten - nicht zuletzt auch in der Orchesterfassung von Paul Mauriat. Sie sollte es abermals versuchen, fünf Jahre später: "Après toi", Siegeslied von Edinburgh, war die Antwort auf den vierten Platz von Wien.
Sandie Shaw, inzwischen 70 Jahre, hat inzwischen ein besseres Verhältnis zu "Puppet On A String" gewonnen - sie verdreht nicht mehr die Augen vor Angewidertheit, wenn sie auf die Tage von Wien angesprochen wird: Es war ja auch ein wirklich prima Lied und eine perfekte Darbietung.