Fankultur: Wo ist die ESC-Familie geblieben?
Kein Unbehagen, aber ein rätselhaftes Gefühl bemerke ich nach den ersten Tagen in Stockholm: Es ist nicht mehr wie früher. Alles, buchstäblich alles, ist perfekt geplant und wird entsprechend auch ausgeführt. Der Pressebereich in einer Basketballhalle hält alles an Infrastruktur bereit, was ein Medientross so nötig hat: Steckdosen, Infofächer, Leitungswasser, Kaffee und Tee sowie gute Lichtverhältnisse zum Arbeiten. Die Halle, die Globe Arena, ist nicht fern, aber der Delegierteneingang liegt 15 Minuten fußläufig entfernt. Die Bühne kann auf Riesenscreens im Pressebereich eingesehen werden.
Alles vorhanden außer Atmosphäre
Man hat sogar an einen ziemlich großen Euroclub gedacht: ein riesiges Zelthaus unterhalb des Königsschlosses - mit viel Programm. Im Kungsträdgården, ehemals ein königlicher Schlossgarten, steht eine Art Eurodorf mit Merchandisingständen. Aber, und das ist seltsam: Es fehlt an der gewissen ESC-Stimmung in Stockholm.
Okay, für eine perfekte TV-Produktion - mit im Vergleich zu Malmö 2013 immens gesteigertem Einsatz von Kamera- und Lichttechnik - ist das ohnehin nicht wichtig. Da zählt nur das, was man auf den Bildschirmen sieht. Und das wird schon grandios, das schwedische Fernsehen hat ja eine gewisse ESC-Routine. Im Jahr 2000 machte die ESC-Karawane zuletzt Station in der Stockholmer Globe Arena.
Routine statt Begeisterung
Insofern: Routine macht jede spontane Fröhlichkeit kaputt. Richtig, so ist das im Leben. In Wien im vergangenen Jahr, in Düsseldorf 2011 oder 2012 in Baku zeigten die Volunteers mehr Herzblut: Man merkte Leidenschaft, nicht smarte Freundlichkeit wie in Stockholm. Der Euroclub ist überwiegend schwach besucht, was nicht an den Getränkepreisen liegt, die sind vergleichsweise moderat. Geheime Treffpunkte mit Fan-DJs, die sich ausprobieren aus Lust an der ESC-Musik, gibt es nicht. Diese gewisse "Bienenkorbunruhe" kurz vor dem, wenn man mal kalauern darf, Ausflug zu Blüten und Pollen, fehlt in Stockholm gänzlich.
Professionalität als Stimmungskiller
Aber an Stockholm liegt es sicher nicht, dass hier in Schwedens Hauptstadt ein ESC produziert, aber nicht zum Leben erweckt wird. Ich vermute stark: Es liegt an der gigantischen Professionalisierung des ESC-Projekts. Wann sie begann, kann man nicht genau datieren. Ich schwelge ein wenig in Erinnerungen.
In Dublin 1994 fand der Empfang der ersten russischen Interpretin Youddiph in den Räumen des Geheimdienstes KGB in der Botschaft statt. Hinterher waren alle ziemlich betrunken, ganz besonders Youddiph. In Birmingham 1998 tanzte Dana International im orangenen Bikini in der ESC-Disco, in die man noch ohne Akkreditierung gelangen konnte - und Bodyguards waren auch keine da. 1992 war die Bühne der Eishalle in Malmö mit einem Wikingerschiff versehen. Presse und Fans konnten während der Probentage die Bühne selbst inspizieren - niemand hielt einen auf.
Handfeste Gelage statt Euroclub
Oder das Thema Partys: Früher gab es keinen Euroclub, dafür veranstalteten die ESC-Länder Empfänge, die oft in wüste Gelage ausarteten. In Jerusalem 1999 gab die Delegation Sloweniens eine Party in einem historischen Palast, welcher es war, weiß ich nicht mehr, nur, dass die Leute aus Ljubljana wirklich nicht mit slowenischen Speisen geizten. Diese Partys, die der Promotion dienen sollten, waren eurovisionäre Fanvernetzung und eine Liebeserklärung an Stars und Sternchen. Auf diesen Meetings ging es wirklich basisnah zur Sache.
Vom Underground zum Mainstream
Das ist alles vorbei. Alle diese Partys, die Presseempfänge, diese entsetzlich anbeterischen Pressekonferenzen: Man wünscht sie sich gelegentlich in ihrer unprofessionellen Art zurück. Damals, falls man das so sagen darf, war der ESC in den meisten Ländern Europas noch Underground, eine Show, die nicht zum Mainstream gehörte, eine, wie mein Kollege Stefan Kuzmany auf Spiegel Online mal schrieb, "queere Familienshow". Der ESC - das war, als er noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß, Musik, die die coolen Kreise nicht hörten. Aber das breite Publikum sah dann doch die Show.
Wo ist die ESC-Familie geblieben?
Mit anderen Worten: Ich weiß, dass der ESC sich entwickeln musste. Dass der Verzicht auf den Zwang zum Singen in der Landessprache nötig war, um kleinen Ländern Chancen auf Gehör zu bringen. Dass auch das Orchester abgeräumt werden musste - moderne Popmusik lässt sich nicht orchestral für fast vier Dutzend Länder ins Werk setzen. Aber: Irgendwie ist einem hier die Familie, diese schrecklich peinliche Undergroundfamilie namens ESC-Community abhanden gekommen.
Der Stockholmer ESC ist seelenlos? Ja. Ein paar Tage ist noch Zeit, den Befund etwas zu mildern. Gleichwohl: Das, was auch immer fein war, das Karnevaleske, das Europäische, das Seltsame, es ist hier beim 61. ESC sterilisiert worden. Die Oberfläche ist glatter denn je geworden.