ESC-Wettprognosen? Belastbar wie dünnes Eis
Seit Wochen beobachten wir das Kandidaten-Ranking der internationalen Wettbüros. Dort rangiert der Niederländer Duncan Laurence seit der Veröffentlichung seines Songs "Arcade" auf dem ersten Platz - und zwar mit erstaunlich sicherem Vorsprung, aktuell vor dem Russen Sergey Lazarev und dem Italiener Mahmood. Der Niederländer schwimmt in seinem Video zu seinem traurig stimmenden Lied sehr telegen - um nicht zu sagen mit entblößtem Hintern - durch die drei Minuten. Womöglich hat es ihm bei vielen Tippspielern und Fans Sympathien eingebracht, ohne Badehose von einem Traumland der Liebe zu singen.
Duncan Laurence sitzt allein hinterm Klavier
Nach allem, was die Proben an Expertise so hergaben, wird er nicht sehr textilarm auftreten, vielmehr sieht man ihn hinter einem Klavier - und dann ist doch irgendwie die Fototapete namens Duncan Laurence plötzlich nur noch ein Balladensänger, wenn auch ein sehr guter. Damit soll dies gesagt werden: Beim ESC gehört der Favoritensturz zum Konstruktionsprinzip. Die unbekannten Spanierin Massiel war dem Briten Cliff Richard im Jahr 1968 gemessen an dessen Prominenz hoffnungslos unterlegen. Sie siegte trotzdem, denn es waren Juryzeiten - und außerdem soll es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Wetten aber sollten mit kalter Präzision spiegeln, was die Menschen, die ihre finanziellen Einsätze riskieren, an Urteilskraft in die Waagschale werfen. Und der Niederländer, so meine Einschätzung, wird in den nächsten Tagen an Glaubwürdigkeit einbüßen.
Francesco Gabbani hielt Wettquoten nicht stand
Die Situation erinnert mich an das Jahr 2017, als der Italiener Francesco Gabbani mit seinem schmissigen "Occidentali's Karma" haushoch als Sieger gehandelt wurde, aber im Finale dann eher müde wirkte. An ihm zog der Portugiese Salvador Sobral vorbei - mit einem Lied, das selbst am Ende der portugieschen Vorentscheidung nicht sein Land in Siegeshoffnungstaumel versetzte. Aber: Gabbanis Beitrag hörte sich überroutiniert an, wie ein zu oft gehörter Schlager. Und die Magie war ganz auf der Seite des damals noch herzkranken Mannes aus Lissabon. Dass der Russe Sergey Lazarev momentan in den Wetten auf Platz zwei liegt, ist für ihn ein gutes Zeichen: Von Lazarev und seinem eher schwachen Lied erwartet man keinen Triumph, aber eine sehr gute Platzierung. Italiens Mahmood ist mit "Soldi" inzwischen wieder auf dem dritten Platz der Wettquoten - etwas gestiegen in der Gunst der Prognostiker.
Überraschend ist nur, dass Luca Hänni, der Schweizer, mit "She Got Me" vor einigen Tagen noch hoch gehandelt wurde und jetzt nur noch auf dem sechsten Platz liegt. Gleich hinter ihm liegt Maltas Michela Pace - und das muss mit dem Live-Eindruck in Tel Aviv zu tun haben.
Die S!sters mischen ab Freitag ihre Karten
Kurzum: Vor einem Jahr war Michael Schulte in den Wochen vor dem ESC in Lissabon in den Wettbüros noch unter ferner liefen gerankt, ehe er Probe für Probe den Wettprognostikern Respekt abzuringen wusste - und fast erwartbar Vierter werden konnte. Es kommt eben auf den Live-Proben-Eindruck an. Eindrücke müssen gesammelt und verarbeitet werden: Kann jemand über sich hinauswachsen? Ist der Act besser als im Previewclip? Sieht ein Künstler, wenn es wirklich darauf ankommt, zuversichtlich und selbstbewusst aus, oder ist er doch irgendwie eingeschüchtert von der Größe des Events, von dem er oder sie ja nur ein kleiner, aber nicht unbedeutender Teil ist?
Die deutschen "Schwestern" rangieren aktuell ganz weit hinten. Darauf ist nichts zu geben. Sie haben schon in Berlin beim Vorentscheid erst in der Live-Show ihre Kohlen aus dem ESC-Feuer geholt: Nun sind sie in Tel Aviv - und werden schon ihre Eindrücke bei den Proben ab Freitag zu hinterlassen wissen.