ESC-Vorentscheid 2017: Wie geht es weiter?
Jamie-Lee hat in Stockholm bestens ihren Song "Ghost“ vorgetragen, es hat dennoch nicht gereicht, im Grand Final mehr als den letzten Platz zugewiesen zu bekommen. Ich war enttäuscht und fand es besonders für die Sängerin mehr als schade. Möge sie ihre Laufbahn unbeschadet fortsetzen: Jahn Teigen, der Norweger, der 1978 mit "Mil etter mil" mit null Punkten nach Hause fahren musste, war trotz dieses Resultats sehr viele Jahre danach besonders erfolgreich. Man fand ihn in seiner Heimat super - und da störte die schlechte ESC-Platzierung sozusagen null. Francine Jordi landete für die Schweiz 2002 mit "Dans le jardin de mon âme" auf Platz 22 - und machte hernach trotzdem Karriere. Und Roger Cicero, 2007 für Deutschland mit "Frau'n regier'n die Welt" jazz-swingend am Start, fand sich nach dem Abend des Finales auf Platz 19 wieder, ohne dass dieses Resultat seiner ziemlich beeindruckenden Karriere - bis zu seinem Tod - wie ein Mahnmal im Weg gestanden hätte.
In Fankreisen des ESC wird seit dem letzten Ton von Stockholm debattiert, wie dieses deutsche Ergebnis nun zu bewerten ist. Ein Vorschlag lautete, Deutschland möge nun aussetzen, zwei Jahre beispielsweise. Ich fragte mich allerdings: wozu? Was soll in 36 Monaten beim nächsten ESC-Auftritt aus Deutschland besser sein als schon im kommenden Jahr in der Ukraine?
Neustart nach Niederlage
Es gibt grundsätzlich zwei Arten, mit schlechten Platzierungen umzugehen. Der eine Modus ist die Jammerei. Gern heißt es dann: Es war doch alles so toll, die anderen haben nicht sehen wollen, wie prima das alles war. Eine andere und bessere Methode ist, sich genau zu überlegen, was nicht so gut lief. Was führte zu diesem für uns schlechten Ergebnis? Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Um es mit einem Beispiel aus der Fußballwelt zu illustrieren: Die deutsche Nationalmannschaft flog beim EM-Turnier 2004 in Portugal schon nach der Vorrunde aus dem Turnier. Es war nicht einmal ungerecht, der deutsche Fußball war einfach schlecht. 2006 sollte die WM in Deutschland stattfinden. Es galt, sich bloß nicht zu blamieren. Das war sozusagen der Krisenmodus: Man musste sich etwas überlegen. Und so geschah es am Ende auch. Das neue Trainer-Gespann mit Jürgen Klinsmann und Joachim Löw führte eine neue, elegantere, eher mediterrane Spielweise ein, die im Gegensatz zu früher athletischer und weniger bolzplatzhaft daher kam.
Beim ESC müsste noch ergänzt werden: Finnland hatte spätestens mit Lordis Sieg 2006 gelernt, dass es als nordeuropäisches Land nicht automatisch übersehen wird. Es kommt eben immer auf die Originalität eines Acts an und auf dessen Klasse. Andererseits: Portugal, dieses Jahr mal wieder pausierend, packt es einfach nicht, sich dem eurovisionären Europa zu vermitteln: Man badet dort seit Jahrzehnten im Selbstmitleid - was den ESC anbetrifft. Führt das zu irgendetwas? Eben!
Mein wunderbarer Kollege Imre Grimm hat vor einigen Tagen ein instruktives Gespräch in der "Hannoverschen Allgemeinen" veröffentlicht, in dem der ARD-Unterhaltungskoordinator und deutsche ESC-Chef Thomas Schreiber seine Sicht der Dinge entwickelte. Kurz zusammengefasst, in voller Länge nachlesbar: Nein, Stefan Raab werde vermisst, aber nicht im Hinblick auf den ESC. Und: Deutschland werde nicht aussetzen, die ARD werde aber für das nächste Jahr die Vorentscheidung ändern. Wörtlich heißt es: “Warum sollten wir uns von der erfolgreichsten und größten Show des Jahres zurückziehen? Beim ESC in Düsseldorf hatten 14 Millionen Zuschauer in Deutschland Spaß - zu einem solchen Ereignis wollen wir wieder hin. (…) Als Fernsehshow ist der ESC keine Pleite, und Jamie-Lee hat einen perfekten Auftritt hingelegt, mit dem wir allerdings nur sehr wenige in Europa überzeugen konnten. Deshalb betone ich: Am Anfang steht die Suche nach einem Lied, national und international."
Ungewöhnliches ist gefragt
Dies scheint mir das entscheidende Stichwort: Die Renaissance, der Wiederaufstieg, beginnt mit der Suche nach dem Lied. Und erst dann mit der Fahndung nach einem Interpreten oder einer Interpretin. Die Bühnenshow, also die Art der Präsentation, ergibt sich aus dieser Reihenfolge: Ob spektakulär aufgeladen oder karg - das hinge vom Lied und von den Künstlern ab. An dieser Suche sollten nach meinem Dafürhalten alle möglichen Komponisten und Texter teilnehmen können - arrivierte, erfahrene und auch Newcomer. Der Wettbewerb sollte Experimentelles und Ungewöhnliches belohnen können. In die Lieder sollten Interpreten hineinwachsen können - so dass sie sich wohlfühlen können in dem, was sie mit ihrer Art der Performance auf die Bühne bringen. Es gibt einfach Lieder, die zu bestimmten Künstlern nicht passen - und andere, in die sie sich im Laufe der Proben verlieben.
Man muss bei dieser Idee nicht gleich an Lena und ihren krassen Aufstieg vom Herbst 2009 bis zum Mai 2010 in Oslo denken. Auch diese zweite deutsche ESC-Gewinnerin entwickelte ihr Charisma und ihre Kraft auf der Bühne mit den Wochen ihrer Qualifikation in Deutschland und den Proben in Oslo. Aber so in diese Richtung möge dies in etwa steuern: Die Interpreten müssen Lust auf Work-in-Progress haben, bei dem die Verpackung sich erst noch entwickelt. Der ESC darf für sie nicht nur ein Gig sein, den man mal so mitnimmt auf dem Wege zu einheimischem Ruhm.
Wenn dann noch mit im Blick behalten wird, dass das, was in Deutschland als Mainstream des Pop gilt, als “Made in Germany“, in Europa eher selten vermittelbar ist, dann wäre es wirklich spannend - auch für alle anderen Länder der ESC-Community: Das wäre ein Neustart, der gern etwas von der Innovationskraft haben darf, die Belgien mit Loïc Nottet oder Lettland mit Aminata im Jahr 2015 verströmten. Das wäre Top-10-fähig.