"Ein guter Jahrgang für Orchester-Fans"
Wenn am 10. Mai der Fernseher für den ESC angeht, werde ich wieder gespannt davor sitzen und schauen, was von den guten alten "Grand Prix"-Zeiten mit Sinfonieorchester übrig geblieben ist: ein bisschen Träumen dürfen von einem ESC mit großem Liveorchester, wie es ihn 1998 zuletzt gab. 2014 könnte dafür ein guter Jahrgang werden. Als Orchester-Arrangeur interessieren mich weniger die am Computer vorproduzierten Euro-Dance-Songs und dafür um so mehr die Live-Titel, an denen wohl auch das alte ESC-Orchester seine Freude gehabt hätte.
Welche Ballade macht das Rennen?
Langsame Stücke sind natürlich bestens orchestergeeignet. Dieses Jahr sind sie allesamt recht ähnlich instrumentiert - mit Klavier und Streichern - da verliert man doch schnell den Überblick.
In Azerbaidschans Ballade "Start A Fire" bleibt ohne Refrain für mich zu wenig hängen, auch wenn die jazzigen Harmonien eine sehr emotionale Stimmung schaffen. Norwegen könnte mit "Silent Storm" gut punkten, wenn der hohe Gesang am Ende live richtig rüberkommt. Hersi aus Albanien hat beim Vorentscheid noch mit großem Orchester gesungen, sich aber danach - leider, wie ich finde - für einen Hard-Rock-Remix mit verzerrter Gitarre im Vordergrund entschieden. Das hebt sie zwar von den anderen Balladen ab, verliert aber für mich an Intensität. Belgiens schön orchestrierte Ballade "Mother" ist etwas zu viel Schnulz für den ESC, wenn auch stark gesungen von Axel Hirsoux.
Spaniens "Dancing In The Rain" erinnerte mich anfangs ein bisschen an den den Siegertitel "Un Jour, Un Enfant" von 1969, verliert aber über die drei Minuten an Intensität. Es klingt nach Radio-Pop - und ist insbesondere am Ende so stark in der Dynamik komprimiert, dass die Stimme von Ruth Lorenzo nicht ihre volle Wirkung entfaltet, die sie mit einem großen Orchester und größerer Dynamik erreichen könnte. Ein Titel, den ich mir mit Live-Orchester sehr viel intensiver vorstelle. Ähnlich auch Schwedens "Undo": Der Gesang im Refrain ist stark am Computer bearbeitet. Live, mit großem Orchester und voller Dynamik, könnte der Titel viel mehr Power am Ende haben.
Den Top-Song gefunden?
Armenien hat mit "Not Alone" eine moderne Mischung aus langsamem E-Drum-Groove aus dem Computer, fettem Orchestersound und toller Stimme geschaffen. Im Video werden sogar die Streicher gefeatured und die E-Drums auf Orchesterpauken simuliert. Das Herz des Grand-Prix-Orchester-Nostalgikers schlägt höher - die Top-Ballade ist gefunden.
Und Deutschland? Elaiza durfte ich schon beim Wildcard-Vorentscheid in Hamburg live erleben. Es ist dieses Jahr wohl der Song, der schon beim ersten Hören am meisten ins Ohr geht - den man sich aber auch relativ schnell wieder überhört hat. Mich erinnert er in dieser Hinsicht an "Lemon Tree" von Fools Garden. Letzteres hat allerdings den beiden anderen deutschen Siegertiteln auch nicht geschadet. Bei "Is It Right?" hat mir die Produktion nach dem Vorentscheid sehr gut gefallen: Das wuchtigere Schlagzeug gibt dem fragilen Bandsound sehr viel mehr Druck. Wenn Ela am 10. Mai gut drauf ist, kann der Titel bestimmt ganz oben mitspielen. Kein Orchestertitel, aber einer mit außergewöhnlicher Instrumentation.
Kein Rocksong, der hängen bleibt
Und Rock? Mal abgesehen von Lordi, ist in Sachen Rock beim ESC wenig hängen geblieben. Drei Titel sind dieses Mal dabei: Finnland könnte mit seinem radiotauglichen aktuellen Indie-Rocksong "Something Better" ganz oben mitspielen. Nicht unbedingt für Orchester geeignet. Israel hat sich bei "Same Heart" hingegen entschieden, nach rockiger Einleitung auf einen Dance-Groove umzuschalten. Rockstimme komibiniert mit E-Drums können mich nicht so ganz überzeugen - als reinen Rocksong hätte ich es besser gefunden. Sehr powervoll und modern im Sound kommt zwar Italien mit "La Mia Cittá" rüber. Leider bleibt hier aber wenig hängen.
Unter ferner liefen ...
Und sonst noch? Bei dem als Hymne konzipierten "Children of the Universe" aus Großbritannien sprang für mich der Funke nicht rüber: Trotz des powervollen Chores ist der Mitsing-Effekt relativ gering. "Cake to Bake" aus Lettland - ganz in der Tradition einiger ESC-Kinderlieder - ist sehr eingängig, aber wahrscheinlich doch zu albern. Ungarns "Running" wechselt für meinen Geschmack zu häufig den Drum-Groove, schafft durch viele Stimmungen in kurzer Zeit aber eine große Dramatik und bleibt lange im Ohr hängen. Der langsame Groove von "Cheesecake" aus Weißrussland gefällt mir sehr gut, trägt aber mangels Abwechslung kaum über drei Minuten. Beim Schweizer Beitrag "Hunter of Stars" klingt für mich die Kombination von gezupftem Banjo mit Country-Groove etwas befremdlich. Islands Beitrag hat mich an eine Mischung aus 1990er Brit Pop á la Madness erinnert. Wird sicherlich nicht gewinnen, aber auf jeden Fall ein netter Partysong.
Nun noch kurz zum Gastgeber. Musikalische Klischees - insbesondere ländertypische - werden ja gerne in ESC-Titeln eingebaut. Dänemarks "Cliché Love Song" sticht dabei heraus, weist er doch schon im Titel darauf hin. Von Motown, über Jackson-Five-Soul bis zum 1990er-Boygroup-Sound inklusive Choreographie - von allem ist etwas dabei. Mich konnte dieser Stilmix musikalisch allerdings nicht so ganz überzeugen. Aber der Refrain bleibt auch hier im Ohr.
Der klare Favorit fehlt
Einen klaren Favoriten habe ich noch nicht. Das hängt dieses Mal sicherlich stark von der Live-Performance der Sänger ab - vor allem bei den Balladen. Mit den Beiträgen aus Deutschland, Armenien, Ungarn, Schweden und Finnland sind auf jeden Fall viele tolle Songs dabei, die es verdient hätten, ganz oben zu stehen. Bei so vielen Titeln mit Untermalung durch klassische Instrumente, kommt bei mir endlich wieder ein bisschen Hoffnung auf, dass das Orchester im ESC noch nicht ganz dem Euro-Dance-Sound gewichen ist.