Winterzeit in Baku
Endlich, SIE ist da! Am Morgen des vierten Probentags vibriert das Pressezentrum förmlich vor Aufregung: Heute kommt Loreen. Zum ersten Mal steht die schwedische Kandidatin auf der Bühne der Crystal Hall und die als Journalisten getarnten Fans sind völlig aus dem Häuschen. Die Sängerin mit dem eigenwilligen Tanzstil schneidet schon seit Wochen in allen Abstimmungen der ESC-Gemeinde als Favoritin ab und auch die Wettbüros setzen auf einen Sieg der Schwedin mit den marokkanischen Wurzeln.
Ohne Zwischenfälle meistert Loreen ihren ersten Probelauf, doch völlig zu Recht betont Christer Björkman, der Leiter der schwedischen Delegation, in der anschließenden Pressekonferenz, dass die Aussagekraft dieser Prognosen gegen Null tendiert: Im vergangenen Jahr kam dem Franzosen Amaury Vassili die Rolle des Fan-Favoriten zu, doch am Ende des Finales landete er auf einem enttäuschenden 15 Platz. Bei Alexander Rybak dagegen behielten Fans und Wettbüros Recht. Noch ist für Schweden also nichts gewonnen oder verloren, aber "die Unterstützung fühlt sich wunderbar an", betonen Björkman und sein Schützling Loreen.
Kunstschnee aus Skandinavien
Diese Unterstützung scheint allerdings nach diesem ersten Auftritt etwas gelitten zu haben, denn die Zuschauer in der Halle sind plötzlich gespalten: Irgendwie kühl und ein wenig zu perfekt wirkt die Inszenierung, die sich seit dem Finale des schwedischen Melodifestivalen nicht geändert hat. Die Performance bleibt ein düsterer Trip in andere Welten - Loreens Augen sind nicht zu sehen, das verhindern ihre langen schwarzen Haare und die Beleuchtung, die konsequent von hinten auf ihren Kopf gerichtet ist. Von Euphorie, also einer überschwängliche Fröhlichkeit, die Loreen in ihrem Titel besingt, ist nicht zu spüren.
Um die Kälte auf die Spitze zu treiben, rieselt zum Schluss des Auftritts Kunstschnee von der Hallendecke. Die lakonische Bemerkung dazu aus der Regie bringt es auf den Punkt: "It’s wintertime in Baku" - es ist Winterzeit in Baku.
Heißes Kontrastprogramm
Neben der Favoritin stehen am vierten Probentag noch neun weitere Kandidaten des zweiten Halbfinals auf der Bühne. Den Gegenpol zur kühlen Loreen bilden zwei Sänger, die gebürtig aus Nachbarländern Aserbaidschans stammen: Can Bonomo aus der Türkei und der im Iran geborene Tooji aus Norwegen. Sie bringen heiße Rhythmen und Freude an der Performance auf die Bühne. Besonders bei Tooji wirkt letztere authentisch, trotz seines stark durchchoreografierten und aus dem norwegischen Vorentscheid bekannten Auftritts. Can Bonomo bringt ebenfalls fünf wirbelnde Tänzer mit auf die Bühne, die einer klaren Regie folgen, hat sich selbst aber seinen eigenwilligen Tanzstil erhalten.
Gleich drei Balladen aus ehemaligen jugoslawischen Ländern bedienen an diesem Tag die Freunde der gediegenen Grand Prix Unterhaltung: Eva Boto aus Slowenien, Nina Badric aus Kroatien und Maya Sar aus Bosnien-Herzegowina zeigen klassische Inszenierungen ihrer schmeichelnden Balladen, singen zart und anrührend und tragen dabei schöne, lange Abendkleider. Doch genau das macht sie auch austauschbar. Ob sich also neben den beiden Balkanstars Zeljko Joksimovic und Kaliopi, die das zweite Halbfinale eröffnen, noch ein weiteres Land aus der Region qualifiziert, wird wohl von der Tagesform der Kandidaten abhängen.
Lieber nicht auffallen
Ihr Debüt von Baku geben am vierten Tag auch der georgische "Joker" Anri Jokhadze, Max Jason Mai, der Rocker aus der Slowakei, sowie die baltischen Kandidaten Ott Leppland aus Estland und Donny Montell aus Litauen - jedoch ohne sich dabei groß in den Vordergrund singen zu können. Offenbar haben die Herren bis zum Halbfinale am 24. Mai nicht vor, Loreen die Favoritenrolle streitig zu machen.