Ukraine-Konflikt: Kommt Russland zum ESC 2017?
Jede Großveranstaltung will gut organisiert sein: Das Datum ist mit Bedacht zu wählen, die Lokalität braucht Größe und Charme. Und die Veranstaltung natürlich Gäste. Und während das Gastgeberland für den ESC 2017, die Ukraine, Probleme hat, Termin und Ort zur Austragung des Wettbewerbs zu finden, ist es vor allem eine Frage, die sich stellt: Wird Russland am ESC in der Ukraine teilnehmen?
Schon kurz nach dem Finale 2016 entflammen Diskussionen rund um dieses Thema. Anton Geraschenko, Mitglied der Parteien "Meine Ukraine" und "Volksfront", heizt Mitte Mai die Diskussion an. Der Berater des ukrainischen Innenministeriums teilt dem Radiosender Govorit Moskwa (übersetzt "Moskau spricht") mit, dass nur die russischen Künstler an dem Wettbewerb teilnehmen dürfen, die die Annexion der Krim als Verbrechen verstehen. Er führt weiter aus, dass die Ukraine eine sogenannte Schwarze Liste von russischen Künstlern erstellt habe, die nicht in das Land einreisen dürften. Nur einen Tag später berichten mehrere Medien, dass es seitens der russischen Föderation keine Kredite an die Ukraine für die Austragung des Wettbewerbs geben werde. So soll es der russische stellvertretende Finanzminister Sergei Storchak entschieden haben. Wie du mir, so ich dir? Ob die Ukraine überhaupt Kredite von Russland angenommen hätte, sei mal dahingestellt. Auf jeden Fall steht fest: Die Fronten sind verhärtet.
Die Abwesenheit Russlands: Eine realistische Option?
Für die Nichtteilnahme gäbe es drei Gründe: Russland wird ausgeschlossen, verzichtet freiwillig oder wird durch äußere Umstände zur Enthaltung gezwungen. Die erste Option, Russland wird von der Europäische Rundfunkunion (EBU) ausgeschlossen: Die EBU hat die Entscheidungskompetenz, Teilnehmer aus dem Wettbewerb auszuschließen, beispielsweise aufgrund eines Krieges im eigenen Land. Sollte die EBU aus diesem Grund Russland an der Teilnahme hindern, müsste sie fairerweise auch das Gastgeberland, die Ukraine, ausschließen. Schließlich gibt es militärische Handlungen auf dem Territorium beider Länder.
Es gibt sogar ein historisches Beispiel für solch einen Ausschluss. Die Bundesrepublik Jugoslawien - bestehend aus Serbien und Montenegro - wurde ab 1993 zehn Jahre lang für den Wettbewerb gesperrt, weil sie nach dem Zerfall des sozialistischen Zweiten Jugoslawiens nicht als Mitglied der Vereinten Nationen (UNO) anerkannt wurde. Die UNO verhängte zudem Sanktionen und Forderungen, die es zu erfüllen galt. Jetzt, mehr als 20 Jahre später, bestehen Sanktionen gegen Russland. Die Situation ist allerdings nicht komplett vergleichbar, denn Russland ist weiterhin ein anerkannter Staat und Mitglied der UNO. Wenn die Sanktionen ein Ausschlusskriterium gewesen wären, hätte Russland schon 2014 nicht teilnehmen dürfen. Es scheint also fraglich, dass unter den heutigen politischen Umständen die EBU Russland aus dem Wettbewerb streicht.
Die zweite Option, Russland verzichtet freiwillig: Zwar hat die diesjährige Niederlage des russischen Hoffnungsträgers Sergey Lazarev in Russland medial hohe Wellen geschlagen - von heftiger Kritik bis hin zu Verschwörungstheorien war alles dabei -, ernst gemeinte Plädoyers für den Verzicht auf die Teilnahme fanden sich allerdings kaum. Aufgeben liegt nicht in der Natur der Russen. Erst recht nicht vor dem Hintergrund, dass Russland in den vergangenen zehn Jahren fünf Mal in den Top 3 vertreten war.
Die dritte Option, die Ukraine lässt bestimmte Künstler nicht einreisen: Dmitri Peskow, Pressesprecher von Kremlchef Putin, hatte gleich nach dem ESC 2016 im Hinblick auf die vermeintlich existierende Schwarze Liste unterstrichen, dass sich jedes Land an die Regeln des Wettbewerb halten sollte, alles Übrige seinem Zuständigkeitsbereich unterliege. Es ist also durchaus möglich, dass es eine solche Liste gibt, die über die Einreise der Künstler entscheidet. Ob die Ukraine sie zum Einsatz bringt, ist allerdings eine andere Frage. Peskow mahnt an, den Teufel nicht an die Wand zu malen, während das russische Kulturministerium Berichten zufolge bereits nach möglichen Kandidaten sucht. Offensichtlich zeigt man sich optimistisch in Moskau. Und lässt nur eine Antwort zu: Russland wird beim ESC 2017 teilnehmen.
Showdown beim Finale 2016
Es ist unwahrscheinlich, dass einer dieser drei Fälle eintritt. Der aktuelle Kriegsfeind kommt also ins gegnerische Land. Konfliktpotenzial ist gegeben, aber vielleicht weniger, als es auf den ersten Blick scheint. Das zeigt ein Blick auf die Punktevergabe beim ESC 2016 - ein wenig erinnert sie an einen Western-Showdown von zwei Kontrahenten. Bei den Juroren lag die Ukraine deutlich vorne, bei dem Televoting der Zuschauer gewann Russland. Die nationale Jury bedachte erwartungsgemäß das jeweils andere Land mit keinem Punkt.
Was an dem Abend wenig Beachtung fand, waren die Abstimmungen der Einwohner der beiden Länder. Die beiden Völker scheinen die gegenseitige Teilnahme zu wünschen, denn die Ukraine hat an Russland zwölf Punkte vergeben und von Russland selbst zehn erhalten. Die beiden Kontrahenten stehen sich gegenüber, stecken die Waffen ein und reichen sich die Hand. Rachewunsch oder Wut? Fehlanzeige. Das zeigt, wie eng die beiden Länder miteinander verwoben sind durch eine gemeinsame Geschichte. Eine Geschichte, die nicht immer einfach war. Dennoch verbinden zahlreiche Erinnerungen, Erfahrungen und kulturelle Aspekte das russische und das ukrainische Volk. Und für diese Menschen gibt es keine Landesgrenzen.
Thank you for the music
Obwohl Russland und die Ukraine einen militärischen Konflikt austragen, gibt die Abstimmung beim ESC 2016 Grund zur Hoffnung, dass die Menschen beider Länder keine Feindschaft wollen. Der ESC ist keine politische Veranstaltung - und er war auch nie eine. Er würde erst zu einem Politikum, wenn Russland nicht teilnehmen dürfte oder durch Restriktionen seitens der Ukraine zum Verzicht gezwungen wäre. Zudem ist es nicht nur die ukrainische Bevölkerung, die Russland befürwortet. Die Ukraine scheint von offizieller Seite die Situation zumindest nicht verschlimmern zu wollen. So wurde der ursprünglich geplante Termin um eine Woche vorverlegt.
Interessant ist es deswegen, weil das ursprüngliche Datum des zweiten Halbfinales, der 18. Mai, der Gedenktag für die Opfer der Vertreibung der Krimtataren ist - genau das Thema, über das die ukrainische Gewinnerin Jamala in ihrem ESC-Beitrag "1944" gesungen hat. Eventuell haben die Offiziellen den Wettbewerb aus Achtung des Andenkens an den Genozid verschoben, auf einen Tag, an dem eine fröhliche Musikveranstaltung eher passend ist. Eventuell taten sie es auch, um eine unangenehme Situation zu verhindern: Sonst hätte der russische Künstler am Gedenktag des Genozids der Tataren durch die Sowjetunion auf einer Weltbühne singen müssen. Das wäre keine günstige Ausgangsposition.
Die Ukraine sollte wie ein wohlgesonnener Gastgeber die Tür öffnen. "Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist: das Feindliche im Fremden zu lähmen", sagte einst der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche. Bis September hat Russland noch Zeit, sich für den ESC im kommenden Jahr anzumelden. Und vielleicht wird es dem ESC dann auch gelingen, zumindest für einen Abend eine Tür zu öffnen, und zu sein, was er eigentlich immer ist: eine große Veranstaltung der Völkerfreundschaft und der Musik.