Stippvisite: Feddersen in der Royal Albert Hall
ESC-Fans nutzen Ferienzeiten ja gern dazu, "heilige Stätten" zu besuchen. Etwa die Villa Louvigny in Luxemburg, das Gaiety Theatre in Dublin oder die Usher Hall in Edinburgh - alles Schauplätze des Eurovisionsfestivals in früheren Zeiten. Für meinen Mann Rainer und mich ging es am Wochenende nach London, in die Royal Albert Hall im feinen Stadtteil Kensington, der perfekte Ort, um in ESC-Erinnerungen zu schwelgen. 1871 eröffnete der strahlende Kuppelbau am Hyde Park, ein Tempel des Entertainments und der volkstümlichen Repräsentation. Knapp 10.000 Leute passen hinein. 1968 fand hier Europas größter Musikwettbewerb statt. Es sollte, nach dem Sieg Sandie Shaws 1967 in der Wiener Hofburg mit "Puppet On A String", eine spezielle Krönungsmesse werden. Cliff Richard war so hoch favorisiert mit seinem "Congratulations", dass das ihm überwiegend hysterisch zugetane Auditorium mit einem sensationellen Punkteregen von den 16 angereisten Ländern rechnete.
Die Halle, in der Cliff Richard besiegt wurde
Es kam anders, die Spanierin Massiel gewann mit "La La La" und verpasste dem Briten einen Schock - und dem Publikum der BBC nicht minder. Ich darf es bekennen: Mein Herz als Kind schlug damals für Wencke Myhre und ihren Titel "Ein Hoch der Liebe", das sie etwas überkeck in einem kanarienvogelgelben Rüschen-Minikleid vortrug. Es war die gute alte Zeit mit Dirigenten und einer recht übersichtlichen Zahl von Teilnehmern. Erstmals wurde der Eurovisions-Wettbewerb in Farbe übertragen (ja, richtig, es gab mal eine Zeit, in der man Schwarz-Weiß als natürliche TV-Farbe empfand, bei dem Folklorefummel wie bei den Jugoslawen als normal empfunden wurden, nicht als bizarr).
Moderatorin Katie Boyle sah aus wie eine schöne TV-Präsentatorin auszusehen hatte. Noch nicht im Pop-Style, aber auch nicht mehr so hochoffiziös wie in den ersten ESC-Jahren. Man hört auf dem Video bei Minute 5:42, als die deutsche Wertung durchgegeben wird, die dem britischen Favoriten den entscheidenden Schlag zugunsten Massiels verpasste, wie Miss Boyle ganz leicht um Fassung ringt. Das geht uns durch den Kopf, als wir in der Arena sitzen - und dass in dieser Arena ebenso gut noch heute ein ESC stattfinden könnte. Eine solche Show hätte hier vermutlich eine akustisch perfekte Atmosphäre.
"Pink Martini" begeistern in der Royal Albert Hall
Die Gruppe, besser: Das Orchester, das wir diesmal sehen sehen, ist ein cooles: Pink Martini aus Portland im US-Bundesstaat Oregon. Eine Combo mit zwei Dutzend Musikern und Musikerinnen, die es seit fast 20 Jahren gibt. An der Spitze der Pianist Thomas M. Lauderdale, Sängerin ist allermeist - wie jetzt in der Royal Albert Hall - die begnadete Stimme China Forbes. Ihre Spezialität ist der Gesang eurovisionär-klassischer Art: Mehrsprachig, Englisch sowieso, aber auch Türkisch, Französisch, Russisch und gelegentlich klingen auch deutschsprachige Brocken durch. Das hat große Spielfreude, das ist Weltmusik der glamourösen Art - wie eine Mixtur aus Bossa Nova, Tanzorchester - Rumba, Cha-Cha-Cha und Paso Doble. So gut aufgeräumte Musikanten habe ich, ehrlich gesagt, selten erlebt. Abba meets Marie N, die lettische ESC-Siegerin von 2002.
"Souvenir" - ein ESC-Film mit Isabelle Huppert
Und dann kommt schließlich, fast zum Schluss, der Knaller: Pianist Lauderdale kündigt drei Lieder eines Soundtracks an für einen Film, der in Frankreich im Dezember in die Kinos kommt. "Souvenir" heißt der Streifen mit der wunderbaren Isabelle Huppert, die eine ehemalige ESC-Teilnehmerin spielt, die nicht gewann und dann in der Gosse landete. Dann aber, viel älter geworden, wird sie von einem jungen Mann zu einem Comeback überredet. Auf den Film dürfen wir uns freuen, auf Isabelle Huppert und wie sie es schafft, eine Geschichte zu verkörpern, die mit dem ESC zu tun hat und doch nicht albern und wie kopiert wirkt.
Pink Martini haben dazu drei Lieder komponiert. Zumindest "Je dit oui" ist aufregend gesungen, klingt famos und würde in jedem Land in den Top 10 landen. Da die Produktionsfirma in Luxemburg beheimatet ist, kommt es einem vor, als würde dieses kleine klassische ESC-Land doch noch ein wenig teilhaben wollen an der Eurovisionswirklichkeit. Pink Martini kommen bestimmt auch mal wieder zu Konzerten nach Deutschland. Jetzt, in der Royal Albert Hall, beim Inspektionsbesuch von zwei Fans, war dieses queere Orchester wie das passendste Geschenk, um diese Kultstätte des ESC als Publikum an Ort und Stelle zu genießen. Jeder Besuch lohnt - und sei es, um traditionellen ESC-Gefühlen nachzuhängen.