Kümmert gewinnt - Ann Sophie fährt nach Wien
Acht Acts, acht Musikstile, acht völlig unterschiedliche Inszenierungen - und eine dramatische Wendung: Hannover war am Abend des deutschen Vorentscheids zum 60. Eurovision Song Contest die Hauptstadt der deutschen Musikszene. Von elektronischen Beats bis zu mittelalterlich-modernen Crossover-Klängen, von Country-Folk bis hin zu Rave-Musik war an diesem Abend wirklich alles dabei. Am Ende haben vier von acht Künstlern die erste Runde überstanden und mit ihren insgesamt acht Songs das Rennen unter sich ausgemacht. Eigentlich konnte nur einer von ihnen das Ticket nach Wien lösen. Deutschland hatte die Entscheidungsmacht - und wählte über das Telefonziffernblatt Andreas Kümmert zu unserem Vertreter für Österreich. Doch was am Ende passiert, hat niemand geahnt: Er nimmt das Ticket nicht und lässt Clubkonzert-Gewinnerin Ann Sophie nachrücken!
Die ESC-Königin singt wie eine Kaiserin
Aber zurück auf Anfang. Schon der Beginn der Show lässt die ESC-Herzen höher schlagen. Auf den emotionalen Jubelvorspann folgt der erste musikalische Ton: Ein mächtiges "Rise Like A Phoenix" schallt aus den Lautsprechern der Arena an der Expo Plaza und dringt über die Fernsehgeräte in die heimischen Wohnzimmer. Erinnerungen an den sensationellen Aufstieg von Conchita Wurst beim ESC 2014 in Kopenhagen werden wach, die Fans in der Halle strecken Hals und Smartphones in die Höhe und geben den ersten Szenenapplaus des Abends. Conchita performt ihren Song mit einer Kraft, als wolle sie den acht Teilnehmern des Vorentscheids noch ein bisschen Kraft für den bevorstehenden Wettbewerb einhauchen. Einen passenderen Auftakt für diesen Abend mit der amtierenden Eurovisionskönigin könnte es nicht geben, Stimmung und Vorfreude in der Halle sind auf dem Höhepunkt.
Charme, Wortwitz und Romantik
Durch den Abend führt Barbara Schöneberger, die vor der Show in der Halle das wohl größte Ständchen zu ihrem heutigen Geburtstag bekommen hat und von Conchita ihr zweites absahnt. Mit gewohnt charmantem Wortwitz und einem vorteilhaft-schicken schwarzen Kleid kündigt sie den ersten Vorentscheid-Act des Abends an: Das Duo Mrs. Greenbird aus Köln. Während die Bühne in der Halle in aller Eile für ihren Auftritt umgebaut wird, dürfen wir die erste Postcard bewundern. "'Shine, Shine, Shine' soll dazu ermutigen, selbstbewusst durch die Welt zu gehen und zu strahlen", sagt Sängerin Sarah darin. Und genau das macht sie dem Publikum im ersten Teilnehmersong vor: Sarah setzt passend zum Songtitel und ihrer fröhlichen Stimme ihr größtes Strahlen auf. In einem Meer aus Lichtern performen sie und ihr musikalischer und privater Partner Steffen ihren "Singersongwritercountryfolkpop"-Song. Zwischendurch tauschen die beiden etwas gewollt intime, verliebte Blicke aus. Trotzdem: Die Chemie zwischen den beiden Sängern stimmt in jeder Hinsicht - jetzt muss nur noch die Chemie zwischen Künstlern und Publikum stimmen.
Udo Lindenbergs Liebling
Dann gehört die Bühne Alexa Feser. Sie hat sich einen für sie schwärmenden Udo Lindenberg in ihren Einspielfilm geholt. Ob sie so das Herz der Zuschauer erobert? Vorsichtshalber gibt sie mit ihrem Song "Glück" dann doch lieber alles, um die Zuschauer zu überzeugen. Die blonde junge Frau aus Wiesbaden nimmt am Klavier Platz. Der Song beginnt ruhig, bis Feser in der zweiten Strophe aufsteht und sich singend dem Publikum zuwendet - das prompt reagiert und ihr zujubelt. Der Song und ihre Vokalfarbe erinnern ein bisschen an Herbert Grönemeyer - in weiblich, versteht sich. Alexa Feser hat viele Anläufe gebraucht, um ihre Karriere in Gang zu bringen, hat sich als DJane, Zeitschriftenzustellerin und Flugbegleiterin Geld verdient, um ihre Musik zu finanzieren. Jetzt hofft sie im wahrsten Sinne des Wortes auch auf ein bisschen "Glück", um beim Vorentscheid zu punkten.
Faun entführen auf eine Zeitreise
"Der nächste Act hatte die längste Anreise", moderiert Barbara Schöneberger die nächsten Teilnehmer an - nämlich aus dem 11. Jahrhundert! Wir erleben eine Zeitreise ins Mittelalter: Faun treten mit "Hörst du die Trommeln" an - und haben eben jene auch in überdimensionierter Form mit auf die Bühne gebracht. Zwischen den beiden Trommeln steht eine Art Altar, der als DJ-Pult dient. Faun vermischen Mittelalterklänge mit modernen Beats und Samples, alte Zaubersprüche und Heldensagen feiern hier genauso ihr Comeback wie traditionelle Instrumente. Dementsprechend haben die sechs Musiker als Blickfang Drehleier, Sackpfeife und Laute im Gepäck und trommeln und singen ihren ersten Beitrag voller Überzeugung und Elan. Auf der LED-Wand gibt's mittelalterliche Symbolspielereien, in Sachen Pyrotechnik traditionelle Feuerschalen und moderne Feuerjets - ein Crossover aus Alt und Modern in jeder Hinsicht.
Vom Mittelalter in die moderne Disko
Sagten wir schon, dass die musikalische Spannbreite verdammt groß ist? Das wird spätestens klar, als auf die Mittelalter-Musik von Faun Rave-Klänge von Noize Generation folgen. Der DJ selbst steht während "A Song For You" hinter seinem Pult und feiert scheinbar schon eine (sehr gelungene) Aftershow-Party. Vorne wird mit immer wiederkehrendem Text (wie auch schon in den Proben nicht ganz sauber) gesungen und vor allem (nicht zu übersehen) getanzt. Noize Generation hat tanzende, mit bunten LEDs übersäte Roboter im Autoscooter-Style mitgebracht. Sie tanzen synchron zu den bebenden Beats. Sie sind zwar ein Blickfang, wären aber sogar auf dem Jahrmarkt nicht zu übersehen - ein bisschen too much.
Noch ahnt sie nicht, was passiert
Auf die Rave-Party folgt eine 24-jährige Frau, die vor gut zwei Wochen alles gewonnen und heute Abend nichts zu verlieren hat: Für Ann Sophie, die Wildcard-Gewinnerin aus dem ESC Clubkonzert, schlägt die große Stunde. Wie sich später zeigen soll, ist es eine harte und verwirrende Stunde. Mit ihrem Ohrwurm "Jump The Gun" zeigt sie ihre Stimmgewalt und ihren Willen, es noch weiter nach oben zu schaffen. Mit ihrer Stimme, ihrer Körperbeherrschung und ihrer kameraaffinen Gestik und Mimik steht sie den großen Künstlern des Abends in nichts nach. Sowohl den markanten roten Jumpsuit als auch die Lampen hat sie aus Hamburg mit nach Hannover gebracht, der Auftritt ist exakt wie beim Wildcard-Clubkonzert - abgesehen von den drei Background-Sängerinnen und der Bühne, die dann doch etwas größer ist. Allein in der Halle sind Tausende Augen auf sie gerichtet, vom Fernsehpublikum ganz zu schweigen. Von Nervosität ist bei Ann Sophie allerdings keine Spur, jeder Ton sitzt. Hier ein Zwinkern, da ein lässiger Blick in die Kamera: Die Newcomerin lässt ihre Hüften kreisen, kniet sich zwischendurch hin und spielt immer wieder mit der Kamera. Selbst als das Licht ausgeht und die Kameras nicht mehr auf sie gerichtet sind, strahlt sie und wirft dem Publikum Handküsse zu.
Natürlicher Pop
Neuer Einspielfilm, neues Bühnenbild, neue Musik: Bei Fahrenhaidt, die in ESC-Fankreisen als die Favoriten des Abends gehandelt wurden, ist alles auf "Frozen Silence" abgestimmt. Hinter Fahrenhaidt stecken die beiden Produzenten Erik Macholl und Andreas John, die sich Unterstützung von einer stimmgewaltigen Sängerin aus Dänemark geholt haben. Amanda Pedersen trägt den Song im selbsternannten "modernen Nature-Pop"-Stil mit klarer und zugleich gefühlvoller Stimme vor. Um sie herum wehen quallenförmige, mit Tüll überworfene Lampen, die durch von ESC-Fans stets geschätzte Windmaschinen zum Wehen gebracht werden. Auch drei Balletttänzerinnen sorgen für eine filigrane Stimmung, während sich die beiden Produzenten selbst am weißen Flügel und hinter dem DJ-Pult verstecken. Dem einen oder anderen mag die Inszenierung zu viel Drumherum sein - doch die Menge in der Halle jubelt und schenkt dem Act eine Extra-Portion Applaus.
Weibliche Muskelprotze
Und auch sie haben einen durchinszenierten Auftritt für ihren ersten Song "Zeig Deine Muskeln" einstudiert: die Elektro-Pop-Gruppe Laing aus Berlin. Der Songtitel ist Programm: Drei Mädels radeln auf Fitnessrädern synchron um die Wette, werfen dabei die Arme in die Luft und singen dreistimmig - das volle musikalische Fitnessprogramm eben. Die Idee zum Song ist sogar in Wien entstanden, erzählt Frontfrau Nicola Rost in der Postcard. Sie war dort im Fitnessstudio und hat erkannt: "Hier geht es gar nicht um Fitness, sondern ums Sehen und Gesehen-Werden." Passend zu dieser Message führt das vierte und sehr muskulöse Laing-Mitglied auf der Seitenbühne eine wahre Bodybuilding-Show auf, während auf den Fahrrädern geschwitzt wird (zugegeben, wahrscheinlich haben sich die Mädels vor dem Auftritt noch mit Öl eingerieben). So richtig weiß man nicht, wo man hingucken soll, doch so wird es wenigstens nicht langweilig. Das sieht das Publikum in der Arena auch so, der Auftritt sorgt für Tuscheleien und Kreischen.
- Teil 1: Acht Acts und eine dramatische Wendung
- Teil 2: Kümmert drückt die ESC-Taste