KI-Contest: Sind Computer die besseren Komponisten?
Karen van Dijk beschäftigt sich gerne mit der Zukunft. Kaum hatte Duncan Laurence den Eurovision Song Contest 2019 in Tel Aviv gewonnen, überlegte sich die Redakteurin der niederländischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkgesellschaft VPRO schon, ob es nicht möglich sei, diesen Erfolg im nächsten Jahr zu wiederholen. Vielleicht gibt es ja so etwas wie eine Formel für den perfekten ESC-Song? Und vielleicht kann künstliche Intelligenz (KI) dabei helfen, sie zu finden? Schon war die Idee für den ersten AI Song Contest geboren (AI für "artificial intelligence"). Ein Wettbewerb, bei dem es darum geht, aus Daten und Algorithmen Musik zu machen, die beim Eurovision Song Contest die Chance auf einen Sieg hätte. Und da dieser Song Contest online durchgeführt wird, findet er trotz Corona-Pandemie und weltweit abgesagter Großveranstaltungen unverändert statt.
Musik auf Knopfdruck? Geht nicht!
Die 31-jährige Content Producerin aus Utrecht ist nicht die Erste mit der Idee, aus Daten von ESC-Songs neue Musik zu generieren. Kurz vor dem niederländischen Sieg hatte ein israelisches Kollektiv aus Musikern und Programmierern mit Unterstützung von Song-Contest-Legende Izhar Cohen den Song "Blue Jeans And Bloody Tears" veröffentlicht. Wer jetzt allerdings glaubt, dass sich Musik auf Knopfdruck erzeugen lässt, der irrt: "Man kann mithilfe von KI zwar Melodiesequenzen oder musikalische Ideen entwickeln", erklärt Karen van Dijk, "aber es braucht immer Menschen, um daraus ein richtiges Lied zu machen". Und die müssen eine ganze Menge Vorarbeit leisten, bis der Computer die erste Melodie ausspuckt.
Künstliche Intelligenz liefert unendlich viele Ergebnisse
Tatsächlich ist jede künstliche Intelligenz nur so gut wie die Daten, mit denen man sie füttert. Allen Teilnehmern wurde daher ein Datensatz mit Angaben zu Genre, BPM, Tonart und Text von rund 200 ESC-Songs zur Verfügung gestellt, doch es sind weitaus mehr Daten erforderlich, um der KI zunächst einmal beizubringen, wie sich die Musikbausteine sinnvoll kombinieren lassen. Erst dann kann mit der Erzeugung von Melodien, Harmonien, Basslinien und Texten begonnen werden. "Die KI kann grundsätzlich unendlich viele Ergebnisse liefern. An einem bestimmten Punkt muss man sie also stoppen und auswählen, was man davon verwenden will", erklärt Karen van Dijk. Wie Intro, Strophe, Bridge und Refrain zusammenhängen und arrangiert werden müssen, weiß die Maschine nämlich nicht.
Deutsches Wissenschaftler-Team mit radikalem Ansatz
Auch für einen komplett automatisierten Gesang gibt es bislang noch keine Lösung. So musste André Röhrig, der gemeinsam mit Ullika Scholz eines von 13 Teilnehmerteams beim AI Song Contest bildet, selbst zum Mikrofon greifen: "Ich habe einen Vocoder darübergelegt, damit es einigermaßen harmonisch klingt, sonst wäre das Ganze völlig unanhörbar geworden", lacht der Datenwissenschaftler, der mit Musik sonst wenig am Hut hat und eigentlich im Bereich Bildverarbeitung tätig ist. "Wir wollten einfach mal schauen, was man mit KI erreichen kann, wenn man drauflos programmiert, um statt Bildern oder Texten Musik zu generieren." Der Beitrag "Offshore In Deep Water" ist daher vielleicht der Wettbewerbssong mit dem radikalsten Ansatz, was den Einsatz von künstlicher Intelligenz für musikalische Zwecke betrifft.
Expertenjury und Publikumsjury stimmen ab
Zumindest bei der Expertenjury rechnet sich Röhrig daher ganz gute Chancen aus, denn die richtet sich nicht nach ästhetischen Kriterien, sondern beurteilt, in welchem Umfang und wie kreativ die KI eingesetzt wurde. Für die künstlerischen Aspekte ist das Publikum zuständig, das noch bis zum 10. Mai hier in vier Kategorien über die Schöpfungen der Künstlichen Intelligenz abstimmen kann. Und auch wenn der Beitrag seines Teams von der KI erzeugt wurde, ist Röhrig stolz auf seine musikalische Schöpfung: "Wenn ein Handwerker einen Hammer benutzt, sagt er ja auch nicht, der Hammer hat den Tisch gemacht." Denn letztlich ist die KI nur ein Werkzeug, das von Menschen programmiert und bedient wird, um Musik zu erschaffen.
KI wird von Musikkonzernen längst genutzt
Müssen Urheber nun um ihre Existenz fürchten? Im Gegenteil, findet Karen van Dijk: "KI kann Menschen inspirieren und spannende musikalische Ideen hervorbringen, auf die sie vielleicht von selbst nicht gekommen wären. Vielleicht bringt sie sogar neue Genres hervor, wie es in der Vergangenheit mit dem Drum-Computer und der E-Gitarre der Fall war", schwärmt sie. Und André Röhrig verrät: "Die großen Musikkonzerne verfügen bereits über Teams von Datenwissenschaftlern, die Daten zu aktuellen Trends analysieren und nach ähnlicher Technik wie wir Musik generieren. Die Informationen von YouTube und Spotify werden längst dafür genutzt." Wie viel KI wohl schon in den ESC-Beiträgen dieses Jahrgangs steckt?