Stand: 02.07.2015 13:40 Uhr

ESC-Songs: Gänsehaut lügt nicht

Wer kennt das nicht: Man hört gerade seinen Lieblingssong und plötzlich stehen einem vor Begeisterung die Haare zu Berge - Gänsehaut! Ein physiologisches Phänomen, mit dem sich unter dem englischen Begriff "musical chills" auch die Musikwissenschaft beschäftigt. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung zeigen solche Gänsehautreaktionen beim Hören von Musik, wobei die Empfindung musikalischer Chills bei manchen Menschen die Intensität eines Orgasmus erreichen kann. Der ORF hatte im Vorfeld des Eurovision Song Contests in Wien den Musikwissenschaftler Christoph Reuter gebeten, sich die Songs der Big 5 sowie die Beiträge Australiens und natürlich Österreichs auf ihren Gänsehautfaktor zu untersuchen. Und die Ergebnisse waren außerordentlich aufschlussreich.

Lügendetektor für Musikgeschmack

Doch wie misst man eigentlich Gänsehaut? Das ist gar nicht so schwierig. Bei einem musikalischen Chill steigen die Herzfrequenz und der Hautleitwert an. Die Poren öffnen sich, man fängt an zu schwitzen und dadurch wird die Haut leitfähiger. Ein spezielles Gerät zeichnet zusätzlich Muskelspannung, Atmung, Blutdruck und andere physiologische Daten auf. Daneben betätigen die Versuchspersonen einen Taster, wenn sie ein Gänsehauterlebnis verspüren. Alle Daten werden dann auf dem Bildschirm mit dem Audiosignal synchronisiert, sodass man genau erkennen kann, an welcher Stelle des Musikstücks welche Körperreaktion erfolgt ist. "Eine Hautleitwertmessung ist ja im Grunde so etwas wie ein Lügendetektor-Test", erklärt Reuter. "Man untersucht die Anregung bzw. Erregung der angeschlossenen Person, und wenn die Musik bestimmte Merkmale aufweist, kann man damit ganz gut vorhersagen, wie ein bestimmtes Stück auf einen Großteil des Publikums wirken wird."

Wohlige Schauer durch Musik

Musikwissenschaftler Christoph Reuter von der Universität Wien. © Universität Wien
Musikwissenschaftler Christoph Reuter untersuchte den Gänsehautfaktor von verschiedenen ESC-Songs.

Und welche Merkmale sind das? "Wenn etwas in der Musik geschieht, was der Erwartungshaltung des Hörers widerspricht, zum Beispiel plötzliche oder ungewöhnliche Wechsel in der Lautstärke oder in der Klangfarbe, Trugschlüsse, unerwartete harmonische Wendungen oder Rückungen", zählt der Musikwissenschaftler als mögliche Auslöser für Gänsehaut auf. Die Rückung - der Wechsel in eine andere Tonart, wobei die Melodie einen Halbton, Ganzton oder eine Terz höher gespielt wird - ist in der Unterhaltungsmusik ein besonders beliebtes Mittel, um eine Steigerung und damit mehr Dramatik zu erzeugen. In der klassischen Musik gibt es besonders viel Chill-Potenzial, weil hier die Durchbrechung der Regelhaftigkeit von Musik eine größere künstlerische Rolle spielt. Besonders Chorwerke jagen den Probanden einen wohligen Schauer nach dem anderen über den Rücken.

Gänsehaut à la Grande Amore

Il Volo bei der zweiten Probe in Wien. © Rolf Klatt / NDR Foto: NDR
Ein Titel mit Gänsehautpotenzial: "Grande Amore" von Il Volo aus Italien.

Das funktioniert natürlich auch mit ESC-Beiträgen. So verwundert es kaum, dass Reuter von den Songs der Big 5 in diesem Jahr vor allem "Grande Amore" der italienischen Teilnehmer Il Volo Gänsehautpotenzial attestieren konnte. "Wir haben alle untersuchten Stücke mit 'Rise Like a Phoenix' verglichen, und der italienische Beitrag wies einige charakteristische Gemeinsamkeiten mit dem Vorjahressieger auf", erklärt der Musikwissenschaftler. "Es wurde immer nur an ganz bestimmten Stellen gechillt, wo zuvor eine sehr starke Steigerung kommt. Die Klangdichte nahm zu, die Dynamik nahm zu, die Tonhöhe ging nach oben." Bei "Rise Like a Phoenix" war das an der Stelle kurz vor dem Refrain, bei den Italienern genau dort, wo sie ihr "Grande Amore" schmettern. Denn auch der Text spielt beim Gänsehauterlebnis eine Rolle: "Es gibt Schlüsselwörter, bei denen man besonders gut chillt: Liebe, Heimat, Familie, Freunde … Also alle emotional besonders stark besetzten Begriffe", weiß Reuter.

Ausschüttung von Glückshormonen

Auf dem Höhepunkt sorgt dann ein Tonartwechsel dafür, dass die Gänsehaut freie Bahn hat. Mit der Gänsehautreaktion geht eine starke Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin einher, der einen wesentlichen Einfluss auf unser Glücksempfinden hat. Das passiert im Übrigen auch, wenn man Alkohol trinkt - was allerdings nicht bedeutet, dass man beim Musikhören in betrunkenem Zustand besonders viele Gänsehauterlebnisse hat. Das zumindest hatte Reuter schon 2013 zusammen mit Marianne Tiihonen von der Universität Jyväskylä und Richard von Georgi von der Universität Giessen untersucht. Offenbar ist eine wichtige Voraussetzung für musikalische Chills die Konzentration auf das fragliche Musikstück - und die lässt mit steigendem Alkoholspiegel bekanntlich nach. Übrigens tritt auch bei Musikstücken, die man besonders schrecklich findet, zuweilen Gänsehaut auf. Das nennt man dann allerdings Fremdschämen.

Keine Chills für "Black Smoke"

In jedem Fall gibt die Hautleitwertmessung Auskunft darüber, inwieweit man von einem Song ergriffen ist, er emotional etwas in einem auslöst. Bei den Versuchspersonen so überhaupt nichts ausgelöst hat leider der deutsche Beitrag "Black Smoke" von Ann Sophie: "Beim deutschen Song hat kein Einziger gechillt", sagt Reuter bedauernd. "Beim österreichischen Song von den Makemakes gab es immerhin vier Chills, wobei die Veränderung des Hautleitwerts allerdings kaum messbar war." Womöglich Gänsehaut aus Lokalpatriotismus? Die Probanden, bei denen "I Am Yours" Gänsehauterlebnisse auslöste, waren allesamt Österreicher.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 23.05.2015 | 21:00 Uhr

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