Nachruf auf eine Große
Lynsey de Paul ist am 1. Oktober im Alter von 64 Jahren in London gestorben - plötzlich, wie ihr Agent versichert - ohne Anzeichen dafür, dass gesundheitlich mit ihr irgendetwas nicht gestimmt hätte. Jüngeren muss man über sie dies erzählen: Als Lynsey Monckton Rubin 1950 in Cricklewood/London in eine jüdische Familie geboren, verlegte sie sich schulisch, später studienhalber auf Künstlerisches. Unter ihrem Künstlernamen Lynsey de Paul hatte sie 1972 ihren ersten und größten Hit - es war ein europäischer Hit sondergleichen. "Sugar Me“ war eine Art englischsprachige Variante, des in Frankreich publizierten Serge-Gainsbourg-Titels "Je t’aime ... moi non plus“. Die Töne gehaucht, die Phrasierungen wie im Schlafzimmer mitten im Intimstem aufgenommen, der Klang der Instrumente getrieben vom Klavierspiel der de Paul selbst, entschieden und zugleich gedämpft. Was da auch in Deutschland unsere Ohren erreichte, war weiblicher Pop mit dem Flair des Selbstbestimmten: Da sang eine, die nicht flehte, sondern energisch forderte, dass er sie zuckern möge ...
Gesicht der Beat-Ära
Lynsey de Paul war die erfolgreichste Singer-Songwriterin ihrer Zeit im United Kingdom. Sie war in jenen Jahren das Gesicht der ausklingenden Beat-Ära. London war auch noch eine Stadt cooler Orte wie der Carnaby Street, wo die grelle, schrille und bizarre Mode jener Jahre zuerst angeboten und getragen wurde. Lynsey de Paul war anders als die Frauen von Beat-Helden wie John Lennon, Mick Jagger oder Paul McCartney: Sie war die Hauptbesetzung, nicht das hübsche Anhängsel eines Mannes. Wenige echte Hits folgten diesem "Sugar Me“. Den größten, vielleicht schrieb sie für Barry Blue, "Dancing On A Saturday Night“. Sie war eine Art Spezialistin für die Sprache der Nacht, der Party, des Ausgehens, der Hingabe an die Jugend.
ESC-Hit zum Mitsummen
1977, als ihre Plattenverträge als Entertainerin erneuert werden mussten, suchte sie, durchaus nach dem Zenit ihrer kurzen, heftigen Popkarriere, die Bühne des ESC sich aus, um sich europäisch ins Bewusstseins ihrer Fans und neuer Anhänger zu singen. In London performte sie für das United Kingdom mit ihrem Kollegen Mike Moran "Rock Bottom“ (ab Min. 1:08): Ein simples, an zwei Flügeln dargebotenes Stück, das auf damals typische Weise für BBC-Titel für den ESC einfach gehalten war. Keine komplizierte Textstruktur, keine chansonartige Verwirrung, leicht zum Mitsingen, also gut genug, um auf Anhieb erinnert zu werden. "Rock Bottom“ summte man sofort mit. Dass sie nicht siegten, lag an der fabelhaften Marie Myriam, die für Frankreich das doch ziemlich attraktive, ja hypnotisierende "L’oiseau et l’enfant" sang und deutlich gewann. Heutzutage ist dieses Chanson ein Klassiker aus der ESC-Geschichte, fürwahr. "Rock Bottom“ hingegen hatte öfter die vollen zwölf Punkte erhalten: die Französin drei, die Briten sechs Mal. Auch den kommerziell größten Hit hatten Lynsey de Paul und Mike Moran. In den eurovisionären Ländern wurde dieser Titel sehr viel im Radio gespielt.
"Sie konnte einfach alles"
Bis zuletzt arbeitete de Paul als Produzentin und TV-Moderatorin. Sie war nie verheiratet und hat sich gegen Gemunkel, sie habe viele Verhältnisse gehabt, etwa mit Ringo Starr, James Coburn, Sean Connery und Dudley Moore, nie gewehrt. Lynsey de Paul wurde am Morgen des 1. Oktober wegen einer Gehirnblutung ins Krankenhaus eingeliefert und starb noch am gleichen Tag. Ihre Nichte Olivia Rubin äußerte sich fassungslos: "Sie war Vegetarierin, sie rauchte nicht, sie trank nicht, sie war bei bester Gesundheit." Und de Pauls Freundin Esther Rantzen würdigte sie so: "Sie war eine Stehauffrau. Sie konnte einfach alles, singen, komponieren, einfach wahnsinnig talentiert. Ein tragischer Verlust."
Wir trauern um sie und danken für sehr viele sehr bewegende Lieder.