Silvi Vrait: Stimme der Freiheit
Sie sah etwas verloren aus in dieser allerletzten Aprilwoche des Jahres 1994: Silvi Vrait. Die eurovisionäre Welt muss ihr grell vorgekommen sein, als sie am 24. April jenes Jahres aus Tallinn nach Dublin flog. Für die Journalisten und die damals noch wenigen Fans muss sie hingegen wie eine Exotin gewirkt haben. Warteten andere Länder mit Parties auf - Schweden etwa mit Marie Bergman, auch die Niederlande mit Willeke Alberti oder die Norweger mit Elisabeth Andreassen – sah alles, was diese Sängerin von sich zeigte, eher schüchtern aus. Und das war ja auch kein Wunder. Denn damals, vor 19 Jahren, war sie die erste Estin, die ihr Land beim ESC repräsentiertierte. Niemand kannte sie, was natürlich auch daran lag, dass es das Internet als Massenkommunitionsmedium noch nicht gab. Silvi Vrait? Nie gehört. In ihrer Heimat aber war sie längst eine Größe, ein Star – zumal sie zu jener künstlerischen Riege zählte, die sich Ende der 9080er-Jahre, als der Eiserne Vorhang nicht nur rostig war, sondern auch zu fallen begann, sich für die Lösung ihres Landes von der Sowjetunion stark machte.
Silvi Vrait wurde am 28. April 1951 geboren, studierte Musik an der Kehra Music School, später Anglistik in Tartu. 1994, als sie in Dublin Estland beim Eurovision Song Contest debütieren ließ, arbeitete sie obendrein als Englischlehrerin in Tallinn. 1972 hatte sie ihren ersten TV-Auftritt, war in etlichen Musical- und Theaterrollen zu sehen. Ihr Liebe galt stets dem Jazz, der freien Phrasierung, der Performance unter Livebedingungen. Silvi Vrait muss sich, obwohl es damals beim ESC noch Orchester gab, unwohl gefühlt haben, als sie 1994 “Nagu Merelaine” (“Wie eine Seewoge”) sang. Nur zwei Punkte und damit den vorletzten Platz nahm sie mit nach Hause. Ihr Lied, ein musikalisches Unentschieden - ein wenig Pomp, eine Spur Ballade, ein Prise vom traditionellen Schlager - war nicht gerade herausragend. Andere aus der Intervision kommende Länder wie Ungarn oder Polen sorgten für stärkeres Aufsehen - Edyta Gorniak mit dem zweiten und Friderika mit dem vierten Rang. Zwei Punkte aus Griechenland waren der karge Lohn für Silvi Vraits Auftritt.
Aber Silvi Vrait ahnte im Voraus, dass sie nicht gut abschneiden würde. “Für mich ist es ein Erlebnis, überhaupt dabei sein zu können. Niemand aus der Musikszene von Tallinn hätte das vor fünf Jahren für möglich gehalten.” Ist es eine Ehre, Estland repräsentieren zu können? “Ja, und wie. Niemand kann sich vorstellen, wie wir uns, die die Eurovision doch nur aus dem finnischen Fernsehen kannten, vorgestellt haben, da mitmachen zu können.” Die Popularität des ESC in Estland war ohnehin groß – sehr viele der Titel von den sechzigern bis achtzigern waren ins Estnische übersetzt worden.
Silvi Vrait sagte in dem Gespräch am Morgen vor der Generalprobe im Point Theatre von Dublin, sie wisse schon, dass sie mit ihren 43 Jahren eine eher Ältere sei unter den vielen Jungen. Ihre Erfahrung werde dem Abend aber bestimmt gut tun. Wichtig sei, sie wiederholte diesen Gedanken bestimmt ein halbes Dutzend Mal, dass Estland jetzt auf der Landkarte Europas in kultureller Hinsicht verzeichnet sei. In politischer Hinsicht war sie wach. Ob sie für den Empfang der russischen Delegation in Dublin zum ESC keine Zeit gehabt habe – er fand immerhin in der Botschaft des Landes statt? “Nein, es war ja ein russischer Empfang, verstehen Sie? Und so lange ich lebe, werde ich nicht mehr freiwillig in die Höhle der Dunkelheit zurückgehen.”
Diese charmante Sängerin, die bis in die letzten Jahre künstlerisch tätig blieb, ist am 28. Juni, im Alter von 62 Jahren an den Folgen eines Gehirntumors gestorben. Sie ruhe in Frieden - einen Platz in der Hall of Fame des ESC hatte sie ohnehin schon.