Nachruf: ESC-Sieg machte Lys Assia zur Ikone
Sie wird als Schlagersängerin bezeichnet, dabei war sie eine Künstlerin, die sich auf die Kunst des Entertainments verstand. Und das heißt, mit ihr kam auf alle Bühnen der 50er-Jahre so etwas wie Welthaltigkeit. Sie beherrschte die Kunst, mehr als nur Lieder abzuspulen, virtuos. Lys Assia ist die allermeisten Jahre ihres künstlerischen Lebens indes weniger dafür berühmt gewesen, 1956 im schweizerischen Lugano den allerersten Grand Prix Eurovision de la Chanson gewonnen zu haben. Vielmehr wurde sie bereits 1950 mit ihrer Version des Liedes "O mein Papa" aus der Operette "Feuerwerk" über ihr Heimatland, der Schweiz, berühmt. Am Samstag ist Lys Assia im Alter von 94 Jahren gestorben.
Königin der Revuen
Assia, als Rosa Mina Schärer 1924 in Rupperswil zur Welt gekommen, zählte zu den ersten europäischen Nachkriegsstars. Sie war eine Art Königin der Revuen, der gediegenen Unterhaltungsabende, die Ära des Pop lang noch in weiter Zukunft. In Deutschland hatte sie einige Hits jenseits des ESC, "Melodie d’amour" Ende der 50er-Jahre etwa.
Dass sie für die Schweiz zur ersten Auflage des (damals nicht so genannten) ESC nominiert wurde, war ganz naheliegend: Wen hätte ihr Land denn sonst schicken sollen? Keine Figur aus dem Unterhaltungsgeschäft war so prominent wie sie. "Refrain" war nicht gerade ein Hit, aber mit der Zeit, als offensichtlicher wurde, dass der ESC ein dauerhaftes TV-Format wurde, für das junge Popbusiness eine immer wichtigere Plattform für ihre Sänger und Sängerinnen, waren dieser Song und seine Interpretin Lys Assia vor allem dies: die allererste ESC-Siegerin, das allererste ESC-Siegeslied, eine Art Erbschaft für alle, die in den Jahren bis heute versuchen, diese Krone ebenfalls zu erringen.
ESC wurde ihr zur Heimat
Lys Assia hat mehrfach probiert, diesen Titel abermals zu gewinnen, stets vergebens. 1957 in Frankfurt landete sie mit "L'enfant que j'étais" auf dem achten Platz. Ihr vielleicht schönstes Lied war "Giorgio", 1958 in Hilversum dargeboten, mit dem sie Zweite wurde. Alles damals war noch sehr altmodisch, Blumengestecke auf der Bühne, Dirigenten wie aus der Szene der klassischen Musik - der Rock'n'Roll und seine raueren Sitten hatte beim ESC keine gute Lobby. Sehr viele Jahre später, als ich sie ausführlicher interviewen konnte, ließ sie am ESC kein gutes Haar. Wird nun gesagt, sie sei dem ESC immer verbunden geblieben, so muss man sagen: Ja, stimmt, aber im Schlechten. 2001 rechnete sie gar mit dem ESC bitter ab: Als sie in den 50er-Jahren beim Eurovisionfestival mitgemacht habe, sei es echter Schmuck gewesen, den sie auf der Bühne trug, teure Roben, schöne, geschmackvolle Gesten, auf die es angekommen sei. Aber inzwischen zähle dies alles nicht mehr. Bei dieser Haltung blieb sie, bis sie, stets professionell gesinnt, erkannte, dass der ESC wieder eine Prominenzmaschine geworden war, sie also besser über dieses Festival reden sollte. Lys Assia kritisierte oft zurecht gerade junge Sängerinnen und Sänger aus der Schweiz, ihre begrenzten Fähigkeiten beim Singen und Performen auf der Bühne. Sie konnte durchaus verletzend und abschätzig sein gegen alle, die ihr attestierten, nun aus der Zeit gefallen zu sein. Doch diese Lys Assia war auch eine Kämpferin.
Dauerstargast beim ESC
Sie, die den diplomatischen Ton nicht so sehr pflegte, hatte längst erkannt, dass ihr erster ESC-Sieg sie zur Ikone, zur Legende gemacht hatte. Sie zeigte sich 2008 in Belgrad beim Voting für das zweite Halbfinale des ESC und überreichte 2009 in Moskau dem Gewinner Alexander Rybak die Siegestrophäe. Sie war nun häufiger als Stargast bei ESCs dabei und wollte 2012 in Baku mit 87 Jahren selbst noch einmal am ESC teilnehmen. Aber ihr Lied "C’était ma vie", von Ralph Siegel geschrieben, fand beim eidgenössischen Publikum nur begrenzten Anklang. Zwei Jahre darauf scheiterte sie abermals, als sie mit den Berner Rappern von New Jack "All In Your Head" einspielte: Aber auch dieser Beitrag fand keinen Anklang.
Hoffentlich in Frieden hat sie in jüngerer Zeit gelebt, im Reinen mit ihrem frühen Ruhm und der Sehnsucht, auch der heutigen Showwelt zu zeigen, wie es richtig geht - mit handwerklicher Professionalität und kühlem Timbre auf dem Gipfel zu sein.