Feddersens Kommentar: Delikate Resultate per Los
Die Halbfinalauslosung für den Eurovision Song Contest 2018 hat für eine Fülle an spannungsreichen Konstellationen gesorgt. Dass Russland und die Ukraine in einem Halbfinale zusammen um das Ticket für das Finale performen, war nicht die einzige Pointe des Festakts in Lissabon. Da sich aber beide Bevölkerungen der früheren Sowjetunion allen politischen Spannungen zum Trotz nicht besonders feindselig gegenüberstehen, dürfte dies für beide Länder nicht ungünstig sein. Man kennt sich, hält sich auf Abstand - und gibt sich Punkte.
Julia Samoylova live im ukrainischen Fernsehen
So war es in allen Jahren, in denen die Ukraine und Russland miteinander bei einem ESC vertreten waren. Das gewisse Etwas kommt dieses Jahr dadurch zustande, dass die Ukraine vor neun Monaten noch Gastgeber war - und Russland nicht dorthin reisen wollte beziehungsweise dessen Kandidatin Julia Samoylova kein Visum für Kiew erhielt. Nun tritt sie in Lissabon an. Schön, dass das deutsche Publikum sich dabei einmischen darf: Russland und die Ukraine sind ins zweite Semifinale gelost, und das ist jenes, bei dem - als Teil der für das Finale gesetzten Big-Five-Länder - die Zuschauer in Deutschland bei One mitwerten dürfen.
(Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Textes haben wir versehentlich behauptet, die deutschen Zuschauer könnten im 2. Halbfinale im Ersten mitstimmen. Tatsächlich wird das 2. Halbfinale bei One übertragen. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.)
Armenien und Aserbaidschan im gleichen Halbfinale
In Sachen Armenien und Aserbaidschan verhält es sich ähnlich politisch aufgeladen. Beide Länder geben sich keine Punkte, sind politisch als direkte Nachbarn im Kaukasus in militärischem Konflikt - und müssen nun doch aushalten, in einem Halbfinale, dem ersten, um das Ticket für das Finale zu performen. Sie werden sich punktemäßig ignorieren - mögen ihre Acts gut genug sein, auch ohne diesen Nachbarn über die Runden zu kommen.
In Zypern und Griechenland steht seit der Auslosung in Lissabon fest: Wir werden vielleicht rausfliegen, aber auf keinen Fall ohne Punkte nach Hause fahren. Soweit der historische Blick auch reicht, aber ein ESC-Jahr, in dem Griechenland und Zypern mitmachten und sich einander nicht Höchstwertungen gaben beziehungsweise sich punktlos ließen, gab es nicht. Das wird beide Länder freuen. Für alle anderen ist das ein Fall typischen Nachbarschaftsvotings.
Kern Nordeuropas unter sich
Das hat es in der ESC-Geschichte immer gegeben, ausnahmslos: Die eurovisionäre Gegend, die sich am stärksten überproportional Stimmen gab, war freilich immer die skandinavische. Die Halbfinalauslosung hat nun ergeben, dass Schweden, Norwegen und Dänemark in einem Halbfinale zusammen vertreten sind. Auch diese drei Länder dürfen davon ausgehen, unabhängig vom jeweiligen Lied nicht überhört zu werden. Diese drei haben sich stets besonders mit punkteträchtiger Aufmerksamkeit bedacht.
Schweiz und Österreich ohne deutsche Unterstützung
Die Schweiz und Österreich haben noch nie besonders von ihrer Nachbarschaft zu Deutschland profitiert. Insofern macht es auch nichts, dass beide Länder im ersten Semifinale ihr Glück suchen, Deutschland ihnen also keine Punkte geben kann, weil es nur im zweiten Halbfinale stimmberechtigt ist.
Es gab und gibt immer Länder, die keine Hilfe von kulturell verwandten Nachbarn erhielten. Tschechien allerdings hat es dieses Jahr mal wieder schwer: In seinem Halbfinale, dem ersten, ist es nur Österreich, dass an Tschechien wenigstens grenzt.
Anders gesagt: Das Auslosungsverfahren versucht seit Jahren, den Effekt von allzu großen Nachbarschaftsbegünstigungen wenn nicht zu verhindern, so doch zu lindern. Das wird freilich nie ganz funktionieren. Letztlich bleibt nur die ewige ESC-Erkenntnis: Mit einem guten Lied schafft es jedes Land ins Finale.