Das Halbfinale an und für sich
Schon seit neun Jahren müssen sich die Teilnehmer des Eurovision Song Contest in einem (2004 bis 2007) beziehungsweise zwei Semifinals (2008 bis heute) für das große Finale am Samstag qualifizieren. Während im Rest Europas am Dienstag oder am Donnerstag bereits der Puls steigt, lassen uns Deutsche diese beiden Shows allerdings recht kalt. Kein Wunder: Die großen Geldgeber für die Eurovisionssause – neben Deutschland auch Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien - sind für das Finale gesetzt. Dementsprechend unattraktiv sind die Sendungen für die Fernsehsender in den Ländern der "Big Five". Im Jahr 2009 sendete Spaniens staatlicher Sender TVE zum Beispiel spontan lieber ein Tennisspiel als die Halbfinalshow, obwohl man sich eigentlich verpflichtet hatte, das Halbfinale zu übertragen.
Übertragung der Halbfinals bei Sendern unbeliebt
Bei uns in Deutschland schieben sich die ARD-Sender die Verantwortung für die Übertragung der Show einander zu wie einen Schwarzen Peter. In diesem Jahr haben ihn Einsfestival (Dienstag, 14. Mai 2013, 21 Uhr) und Phönix (Donnerstag, 16. Mai, 21 Uhr) gezogen. Der NDR überträgt die Halbfinale jeweils zeitversetzt um 0.00 Uhr beziehungsweise 23.55 Uhr. Aber ich will hier keine Kollegenschelte betreiben. Auch ich hab schon Kollegen der einen oder anderen Radio-Redaktion empfohlen, am Dienstag lieber über "relevantere" Aspekte des bunten Eurovisionslebens zu berichten, sei es über die faszinierende ESC-Euphorie in Malmö oder die "nationale Bedeutung" des Outfits von Cascada-Sängerin Natalie Horler.
In Deutschland mögen die beiden gut zweistündigen Halbfinal-Shows ausschließlich für Fans relevant sein. Dennoch sind sie dringend erforderlich! Zum Beispiel, um die größten musikalischen Irrtümer auszusortieren. Jeder, der schon einmal alle 39 Wettbewerbssongs am Stück gesehen hat, muss zu dem Ergebnis kommen: Ein solches musikalisches Portfolio kann man der breiten Masse nicht zumuten. Weder qualitativ noch quantitativ. Fernsehzuschauer und Jurys haben bislang meistens ein sehr gutes Händchen bewiesen und das übelste Kanonenfutter zu Recht aussortiert, so dass in den vergangenen Jahren dann doch immer ein sehr ordentliches Finale zustande kam.
Tektonische Verschiebungen durch Ausscheiden einzelner Länder
Einzelne Entscheidungen im Semifinale können sich jedoch spürbar auf das Gesamttableau im großen Finale am Samstag auswirken. Scheiden zum Beispiel Länder wie Belgien oder die Niederlande im Semifinale aus, ist das nicht nur traurig für die beiden Länder. Das Ausscheiden verändert das Abstimmungsergebnis dieser Länder im Finale so fundamental, dass es zu tektonischen Verschiebungen kommen kann. Mit dem Enthusiasmus gehen in diesen Ländern ebenfalls die Einschaltquoten den Bach runter. Kaum jemand guckt beim Finale mehr zu, noch weniger stimmen ab. Das Punktetableau des Televotings spiegelt am Ende dann eher die zahlenmäßige Verteilung ausländischer Minderheiten wider als ein repräsentatives Stimmungsbild dieser Länder.
Das Semifinal-Pech des einen Landes kann sich auch als ungeahnter Glückfall für ein ganz anderes Land erweisen, obwohl die beiden Länder auf den ersten Blick in keinerlei Beziehung zueinander stehen. Zugespitzt ausgedrückt: Der Grundstein für die Siege von Deutschland und Aserbaidschan in den vergangenen Jahren wurde schon jeweils im Semifinale gelegt. Beispiel Lena: Fundament für Deutschlands Erfolg im Jahr 2010 waren die "Twelve Points" aus allen skandinavischen Ländern. Topwertungen, die wahrscheinlich Anna Bergendahl aus Stockholm abgesahnt hätte, wenn sie am Finale teilgenommen hätte. Doch trotz zwölf Punkten sowohl aus Dänemark als auch Norwegen war die Schwedin im Semifinale überraschend gescheitert. So konnte der ganze europäische Norden guten Gewissens Lena im Finale mit den Top-Points überschütten, so dass sie schließlich zur überlegenen Siegerin gekürt wurde.
Ebenfalls extrem spekulativ, aber nicht weniger spannend, das zweite Beispiel: Beim ESC in Düsseldorf schied die Türkei vollkommen überraschend erstmals im Semifinale aus – trotz Höchstwertungen aus den muslimischen Ländern Albanien und Aserbaidschan. Ein Freund aus Ankara flötete bei der Aftershow-Party nach dem Sieg Aserbaidschans mit einem schelmischen Lächeln im Gesicht: "Wir wissen schon, wie wir eine Flagge mit dem Halbmond aufs Siegerpodest voten!" Was war passiert? Mit einem der schwächsten Ergebnisse der ESC-Geschichte hatte Aserbaidschan (ein Land mit Halbmond in der Flagge) aufgrund seiner guten Televoting-Ergebnisse recht knapp gewonnen. Vielleicht waren – wie mein Freund suggerierte – die europaweit lebenden Türken das Zünglein an der Waage, da sie nicht für ihr Heimatland anrufen konnten und deshalb eventuell für ihren respektierten Nachbarn stimmten.
Mal sehen, was diesmal passiert. Manchmal entwickeln die Halbfinals eine ungeahnte Relevanz und Dramatik, deren Schicksalshaftigkeit sich aber oft erst nach Auswertung der detaillierten Ergebnisse erschließt. Ein Blick in die Eurovisions-Glaskugel ist immer problematisch. Aber vielleicht lässt eine besondere Sternenkonstellation die größten Konkurrentinnen von Cascada ausscheiden und macht Deutschland dadurch abermals zum Sieger. Wunder gibt es immer wieder!