Estland: Malcolm Lincoln & Manpower4
Die Letzten werden die Ersten sein: Viel hätte nicht gefehlt und der Gewinner des diesjährigen estnischen Vorentscheids wäre gar nicht zum Wettbewerb angetreten. Eigentlich war die Gruppe Malcolm Lincoln bereits in der internen Vorauswahl des Fernsehsenders ETV gescheitert, erst die Disqualifikation eines anderen Kandidaten verschaffte ihnen den letzten der zehn Startplätze im Finale von Eesti Laul 2010.
Sieg der Underdogs
Somit ging die Formation, die aus Sänger Robin Juhkental sowie dem Bassisten Madis Kubu besteht, am 12. März 2010 in der Nokia Concert Hall in Tallinn als krasser Außenseiter ins Rennen. Daran änderte auch der Chor von Manpower4 nichts, der als Verstärkung mit auf der Bühne stand. Doch nach dem ersten Votum der Zuschauer und Juroren bahnte sich eine Überraschung an. Zusammen mit der Sängerin Lenna Kuurmaa zogen Malcolm Lincoln ins Superfinale ein. Dort zählte am Ende nur noch die Meinung der Zuschauer und diese entschieden sich für die Underdogs und ihren Song "Siren".
Estnischer Elektropop
Der Sieg von Malcolm Lincoln ist umso bemerkenswerter, weil Robin Juhkental und Madis Kubu mit "Siren" keine leicht verdauliche Grand-Prix-Kost bieten. Das Duo kommt aus der alternativen Musikszene von Tallinn und bezeichnet ihre Musik als elektronischen Pop. Diesem Stil bleiben sie auch bei ihrem Siegertitel treu: zahlreiche Tempowechsel, elektronische Soundschnipsel, ein esoterischer Chor und dazu die zerbrechlich wirkende Stimme von Frontmann Juhkental.
Keine Angst vor brotloser Kunst
Robin Juhkental ist nicht nur der Sänger, er hat auch das uneingeschränkte Sagen bei Malcolm Lincoln. Alle Songs stammen aus der Feder des 22-Jährigen. Seinen Mitstreiter Madis Kubu überredete er bei der Gründung der Band 2009, bei Live-Auftritten den Bass zu spielen. Die Zwei waren bereits Kollegen in der Bluesrock-Formation Tšakra gewesen. Während dieser Zeit haben beide offenbar die Erfahrung gemacht, dass Musik brotlose Kunst sein kann. Denn Frontmann Juhkental studiert neben der Musik Straßenbau an der Technischen Hochschule Tallinn. Bassist Kubu hat seinen Universitätsabschluss in Kunstgeschichte und Philosophie bereits in der Tasche. Sollte die Teilnahme am Grand Prix der erste und letzte Höhepunkt ihrer Karriere sein, haben sie immerhin einen Plan B.
Robin Juhkental ist aber nicht nur wegen seiner potenziellen Ingenieurskarriere gut gegen musikalische Enttäuschungen gewappnet. Mit zwei gescheiterten Starts bei der estnischen Variante von "DSDS" und der Casting-Show "Kaks takti ette" - auf Deutsch "Zwei Takte nach vorn" - kennt der Sänger sich bestens mit Niederlagen und ihren psychologischen Auswirkungen aus.
Wenn das Abraham wüsste
Eine Niederlage verdanken Malcolm Lincoln sogar ihren Namen. Die Rateshow "Wer wird Millionär" kennt auch in Estland jedes Kind. Deren Quizmaster - kein geringerer als Hannes Võrno, der 2008 mit Kreisiraadio für Estland zum Grand Prix fuhr - wollte einmal von einer Teilnehmerin wissen, wer der 16. Präsident der Vereinigten Staaten war. Die unglückliche Dame entschied sich für die falsche Antwort: Malcolm Lincoln statt Abraham Lincoln. Damit vermasselte sie sich die Chance auf eine Million estnischer Kronen, dafür geht ihr Fehltritt jetzt als Bandname in die Geschichte des 55. Eurovision Song Contest ein. Kann es einen schöneren Trostpreis geben?
Mit ihrem eigenwilligen, dahinfließenden Pop-Song "Siren", der an eine Mischung aus Human League und U2 erinnert, kamen Malcolm Lincoln im Halbfinale beim Publikum in der Telenor Arena erstaunlich gut an, auch wenn es keinen Refrain zum Mitsingen gab. Der Auftritt des Esten endete allerdings wie gewohnt: mit einer Niederlage!