Vorentscheid-Kandidaten tüfteln an Songs
Am Straßeneingang beginnt die Ausschilderung: "ESC Songcamp" steht auf einem Papier und man wird mit weiteren Schildchen in den Hinterhof gelotst. In der dritten Etage eines alten Gewerbegebäudes befindet sich das Kung-Fu-Studio. Und man braucht viel Luft, um es zu erreichen. Ein Fahrstuhl ist nicht vorhanden. Musik? Sounds, die nach Eurovision klingen? Nichts, kein Ton. Und das ist auch kein Wunder, denn alle Kandidaten und Kandidatinnen sind in gut abgeschirmten Einzelstudios - und brüten. Später wird Jens Bujar, Executive Producer des deutschen Vorentscheids am 22. Februar in Berlin, sagen, dass die Stille auch auf das hinweist, worum es geht: die Schaffung von Weltklasse. "Hier weiß jeder, dass es nicht auf einen Song für ein Album ankommt, sondern auf ein Lied, das in Lissabon gut abschneidet. Keiner der sechs Acts hat das jetzt nicht auf dem Zettel." Und Lars Ingwersen, Musikverleger aus Hamburg, der das gute Dutzend Texter und Komponisten (nicht nur) aus Deutschland für das Projekt gewonnen hat, sagt: "Das ist keine Liedproduktion wie in einem Industriebetrieb. Hier wird ein hoffentlich exzellenter Act geschöpft. Hier kann jeder einen Maßanzug fertigen, das Lied, das einer singt, ist nicht von der Stange."
Songtüfteleien im Tonstudio
Songcamp? Ein mysteriöser Begriff, eigentlich. Hier im Kung-Fu-Studio wird er ganz selbstverständlich gebraucht: Die Künstler sitzen mit Textern und Komponisten zusammen und tüfteln an ihren Liedern. Was sie tun, ist sozusagen feinstes Handwerk: Jede Note wird erörtert und ergrübelt, jede Zeile gewogen, ob sie gut singbar ist. Die Zeiten, da ein Komponist wie Ralph Siegel ein Lied am Klavier als One-Man-Product erfindet und sich dann einen Text bei Bernd Meinunger bestellt, die gibt es nicht mehr.
Entstehungsprozess der Songs als Teamwork
Es ist der zweite Tag des Songcamps, für Ivy Quainoo ist es allerdings der erste. "Ich bin noch wahnsinnig müde", sagt die Sängerin. Sie ist gerade aus New York zurückgekommen, wo sie just eine zweijährige Schauspielausbildung absolviert hat. Aufgeregt? "Ich war mir nicht sicher, ob ich das Eurovisionsding machen soll. Nicht wegen des ESC, sondern weil es ja um Musik geht und ich mich um Schauspielerei gekümmert habe. Aber ich finde, es passt für mich sehr, sehr gut." Wird sie sich am Song selbst beteiligen? "Ja, klar, sonst wäre es nicht glaubwürdig. Ich möchte nicht ein Lied präsentieren, an dem ich nicht mindestens mitgefeilt habe."
Glaubwürdigkeit im Fokus
Eine Haltung, die auf Glaubwürdigkeit auf der Bühne setzt, die auch Michael Schulte teilt. Der junge Mann, aufgewachsen bei Flensburg und der nun in Buxtehude bei Hamburg lebt, sagt, als er aus dem Studio für eine schöpferische Pause kommt: "Na klar, der Druck wächst. Jetzt sind wir nur noch sechs und alle sind wahnsinnig gut und können klasse singen. Aber nur einer kann gewinnen, und ich hoffe, dass ich es mit dem richtigen Lied bin, der nach Lissabon fährt. Dort stelle ich es mir leichter vor. Ich weiß dann ja, dass Deutschland hinter mir steht. Ich gehe davon aus, dass mein Lied auf jeden Fall stark von mir mitkomponiert und getextet sein wird."
Große Hoffnungen auf Erfolg durch Authentizität
Nicht alle der sechs Kandidaten sind an diesem Nachmittag bis in den Abend im Songcamp. Natia Todua war kurz da, Ryk ist leicht erkrankt. Xavier Darcy ist einer der präsentesten Personen an diesem Tag: "Nein, eine Ballade zu singen, wird eher nicht so meine Sache sein. Ich meine, alles ist möglich, aber die Sachen, die ich bisher gemacht habe, stehen mehr für Energie und Kraft." Stefan Raaflaub von voXXclub trifft man in der Küchenecke. Er sitzt dort mit zwei Textern und ringt um Silben und Worte. Noch steht das Lied für diesen Tag nicht, es ist das Kleinteilige, dem ihre Aufmerksamkeit gilt. "Kommen, daherkommen, ankommen" - es scheint, hört man eher nebenbei zu, als drehe sich die Geschichte ums Zuhause: Moderne Volksmusik kommt auch hier in Berlin-Kreuzberg nicht ohne Heimatverse aus. Am Ende, ob nun dieses Lied oder ein anderes, das diese Band präsentieren wird, soll es leicht, einfach und wiedererkennbar sein. "Aber auch international konkurrenzfähig", sagt der Schweizer Raaflaub, "in Lied, das in allen Eurovisionsländern Anklang findet."
Zwischen harter Arbeit und Spielpausen
Am späten Nachmittag löst sich für manche die Spannung im Gemeinschaftsraum beim Tischtennisspielen. Michael Schulte nimmt einen Schläger und macht eine Viertelstunde mit, später beteiligt sich auch der Mann vom voXXclub energisch - da wird Energie abgelassen, nicht jeder Ball landet auf der Platte, sondern wird in die Weite des Raums gedroschen, und das mit ersichtlich guter Laune. Freitag geht es mit neuen Teams um neue Songtüfteleien. Axel Ehnström, den das Eurovisionspublikum aus dem Jahre 2011 in Düsseldorf kennt, weil er damals als Paradise Oskar für Finnland am Start war, sagt in einer Pause: "Oh, es ist eine Ehre, bei diesem Songcamp dabei zu sein. Und ich hoffe, dass meine Expertise den Kandidaten hilft." Und die Niederländerin Loren Nine Geerts, die schon für Dance-Größen gearbeitet hat und auf die Entwicklung passender Beats spezialisiert ist, resümiert ihren Camp-Tag so: "Oh, das war toll und konstruktiv. So geht es bitte weiter. Vielleicht bin ich ja an der Produktion des Siegersongs beteiligt. Wir arbeiten weiter hart."