Stand: 25.05.2020 09:25 Uhr

Wer hätte den ESC 2020 wirklich gewonnen?

The Roop © NDR/Uwe Ernst Foto: Uwe Ernst
The Roop aus Litauen gewinnen das deutsche ESC-Finale in Hamburg.

In einem normalen ESC-Jahr würden wir an dieser Stelle über Unterschiede zwischen Jury- und Publikumswertung sprechen, uns vielleicht über neue Punkterekorde freuen oder über die Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit des einen oder anderen Abstimmungsmodus philosophieren. Doch nach der Absage des Eurovision Song Contests 2020 wegen der Corona-Pandemie, wissen wir noch nicht einmal, wer den Wettbewerb in Rotterdam überhaupt gewonnen hätte. Und so schön ein Sieger der Herzen ist, als ESC-Fan möchte man es doch gerne genau wissen. Da es in diesem Jahr kein gesamteuropäisches Voting gab, müssen daher viele einzelne Puzzlesteine mühsam zusammengetragen werden. Das Bild, das sich auf diese Weise ergibt, ist zwar unvollständig, aber trotzdem ausgesprochen interessant.

Viele Ländervotings von den Rundfunkanstalten

Neben dem deutschen Finale am 16. Mai, das The Roop aus Litauen mit dem Titel "On Fire" für sich entscheiden konnten, gab es eine ganze Anzahl nationaler Abstimmungen, die allerdings alle unter sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen durchgeführt wurden. So bestand die Jury im "Kleinen Song Contest" des österreichischen Senders ORF aus zehn ehemaligen ESC-Teilnehmern, die zwar alle Titel bewerteten, das Publikum durfte am Ende aber nur aus drei Finalisten wählen. Die Isländer dagegen konnten in der Sendung "Okkar 12 stig" ihre Punkte auf 15 Finalisten verteilen, die in der mehrteiligen Preview-Show "Alla leið" von jeweils vier unterschiedlichen Juroren ausgewählt worden waren. In Norwegen wurde die zwölf Finalisten, aus denen die Zuschauer wählten, gar intern anhand der letzten Wettquoten, Streamingzahlen und YouTube-Klicks festgelegt.

Komplette Rankings im Internet und im TV

Daði Freyr © NDR/Uwe Ernst Foto: Uwe Ernst
Die Isländer Daði og Gagnamagnið liegen bei den Ersatzvotings oft vorne.

Manche Länder wie Schweden gaben ihren Zuschauern in einem fiktiven Finale die Möglichkeit, über 26 Teilnehmer abzustimmen. In San Marino oder Australien konnte man dagegen alle Songs online bewerten und das Ergebnis wurde anschließend in einer Fernsehshow verkündet, wobei der eigene Beitrag bei fast allen Abstimmungen außer Konkurrenz lief. Bulgarien und Dänemark führten ihre Abstimmung gleich ganz im Internet durch. Der Statistikfreund erkennt sofort: Das lässt sich alles nur sehr schwer miteinander vergleichen. Zumal Skandinavien unter den Ländern mit eigenem Voting überproportional vertreten ist. Kein Wunder also, dass Island bei den offiziellen Votings die Nase vorn hat. Doch wie lässt sich so etwas überhaupt feststellen?

Bei den offiziellen Votings führt Island

Die vergebenen Punktezahlen helfen uns nicht, einen Sieger zu ermitteln, denn die Bewertungsgrundlagen sind zu unterschiedlich. Was jedoch bei allen Abstimmungen gleich ist, ist das Ranking, also wer auf dem ersten, zweiten, dritten Platz liegt. Von diesen vielen unterschiedlichen Rankings (in die Auswertung flossen 17 Abstimmungen ein) lässt sich ein Mittelwert bilden, und dieser Mittelwert lässt sich dann wiederum in ein Gesamtranking umrechnen. Und das liegt mit 3,0 für "Think About Things" von Daði og Gagnamagnið klar vor den Songs aus Litauen (4,75) und Russland (4,94). Ben Dolic mit "Violent Thing" liegt mit 7,8 auf einem guten achten Platz. Aber wie gesagt, dieses Ergebnis hat eine sehr starke nord-/westeuropäische Schlagseite.

Bei den Fanvotings liegt Litauen in Führung

Der Schweizer Sänger Gjon's Tears alias Gjon Muharremaj, Kandidat des ESC 2021.  Foto: SRF/Lukas Mäder
Der Schweizer Sänger Gjon's Tears liegt bei den Fanabstimmungen auf einem guten zweiten Platz.

Weniger Probleme beim Abstimmungsvergleich bereiten die Ergebnisse der Fanabstimmungen. Hier hielt man sich oft akribisch an das ESC-Prozedere mit zwei Halbfinalrunden und einem Finale. Einige Faninitiativen produzierten sogar aufwendige Online-Shows, die gestreamt oder auf YouTube hochgeladen wurden, so zum Beispiel der "Eurostream 2020", an dem 20 verschiedene Fanblogs und -seiten arbeiteten. Hier wurden stattliche 47.519 Stimmen abgegeben. Beim Uservoting von Wiwibloggs gingen 35.644 Wertungen ein. Häufig blieb die genaue Anzahl der abgegebenen Einzelwertungen allerdings im Dunkeln. Zur besseren Vergleichbarkeit mit den offiziellen Abstimmungen wurden daher auch hier die Rankings zu Grunde gelegt. Bei den Faninitiativen, für die schon ein Ergebnis existiert (bei einigen wie "ESC kompakt" läuft die Abstimmung noch), liegt Litauen mit einem Durchschnittsrang von 2,67 vor der Schweiz mit 3,42 und Island mit 4,5. Ben Dolic wird hier sogar noch einen Platz besser eingestuft.

Kein Gesamtergebnis, aber eine Näherung

Führt man die Ergebnisse der offiziellen Abstimmungen mit denen der Fans (darunter auch Fanseiten aus Estland und Polen) zusammen, ergibt sich ein recht knapper Sieg für Island mit 3,62 vor Litauen mit 3,89 und der Schweiz mit 4,68. Das ist aus mehreren Gründen kein eindeutiges Ergebnis: Zum einen überwiegen Abstimmungen aus Nord- und Westeuropa (auch wenn Abstimmungsergebnisse der Fans aus Süd-, Ost- und Südosteuropa in vielen Fanabstimmungen enthalten sind), zum anderen müssen die einzelnen Rankings gleich gewichtet werden, weil häufig Angaben zu den Teilnehmerzahlen fehlen. Auch berücksichtigt die Rangfolge keine Abstände, wie wir sie bei Punktewertungen hätten. Wir können uns dem tatsächlichen Ergebnis daher nur sehr grob nähern. Wer wirklich den ESC 2020 gewonnen hätte, entscheidet am Ende also doch das Herz.

Dieses Thema im Programm:

NDR Blue | ESC Update | 23.05.2020 | 19:05 Uhr

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