Ausnahmezustand vor dem Turkvision Song Contest
Es ist Donnerstagmorgen in Istanbul. Seit ihrer Anreise am Sonntag wartet Derya Kaptan darauf, endlich die Bühne in Augenschein nehmen zu dürfen, auf der in zwei Tagen der Turkvision Song Contest stattfinden soll. Der erste Eindruck schockiert die Delegation: Überall wird noch geschweißt, geschraubt, gebohrt und gehämmert. Dennoch werden eisern die ersten Soundchecks und Stellproben durchgeführt, denn die Zeit drängt. Künstler aus 21 turksprachigen Gebieten wollen ihre Songs möglichst effektvoll inszenieren und haben sich wochenlang darauf vorbereitet. So ertragen sie die Situation mit stoischer Gelassenheit und konzentrieren sich ganz auf ihren Auftritt.
Politisch bedingter Ausnahmezustand
Eins ist sicher: Unter den gegebenen Umständen wäre eine Show dieser Größenordnung in Europa nicht produziert worden. Erst im September hatten die Veranstalter erfahren, dass Turkmenistan seiner Gastgeberrolle nicht nachkommen würde. Erschwerend hinzu kam, dass aufgrund der politischen Spannungen zwischen der Türkei und Russland sämtliche Teilnehmer aus den autonomen russischen Teilrepubliken kurzfristig ihre Teilnahme zurückgezogen hatten. Ein Team soll sogar schon am Flughafen Atatürk in Istanbul an der Passkontrolle angestanden haben, als sie der Ruf zurück in die Heimat ereilte. Kein Wunder, dass beim ausrichtenden türkischen Musikkanal TMB seit drei Monaten Ausnahmezustand herrscht.
Zäher Informationsfluss
Ein Ausnahmezustand, in dem sich seit Sonntag auch die angereisten Delegationen befinden, denn die Informationen fließen spärlich. Wie viele Künstler nehmen tatsächlich teil? In welcher Startreihenfolge treten sie an? Wann müssen wir wo sein? Im Minutentakt wird unterschiedliches und zum Teil widersprüchliches Hörensagen in Umlauf gebracht. Nazile Abbaslı, Ideengeberin und gute Seele der Veranstaltung, versucht zu retten, was zu retten ist, bringt Künstler und Fernsehverantwortliche am Frühstückstisch auf den neuesten Stand und hält sie mit lustigen Geschichten über den elterlichen Hühnerstall bei Laune. Ihre Informationen werden nach dem Prinzip "stille Post" an diejenigen weitergereicht, die bei Naziles Frühstücksbesuch noch unter der Dusche stehen.
Werben um die Juroren
Fels in der Brandung ist das Kamerateam um TV-Producerin Hatice Acarbay, die früher bei TRT für den Eurovision Song Contest verantwortlich war und jetzt eine Dokumentation über den Türkvision Song Contest in Istanbul dreht: "Wir sind dieses Arbeiten gewohnt. Wenn Plan A nicht funktioniert, haben wir immer noch Plan B, C und D im Ärmel", lacht die Fernsehmacherin. Mit der Kamera folgt sie dem deutschen Team auf Schritt und Tritt. Auch bei den Freitagsproben, die von den Mitgliedern der Jury aufmerksam verfolgt werden. Die vergangenen Tage wurden sie von den Delegationen freundlich umworben, denn der Turkvision Song Contest wird auch als Börse für geschäftliche Kontakte genutzt.
Bombastische Show
Insgesamt herrscht ein herzlicher Umgang, auch wenn viele Teilnehmer aus ehemaligen Sowjetrepubliken nur gebrochen auf Türkisch kommunizieren können und bevorzugt auf Russisch sprechen. Doch wenn abends bei einem Glas mitgebrachten Champagners auf den Geburtstag von Türkvizyon-Executive-Producer Islam Bagirov angestoßen, gelacht, getanzt und gesungen wird, sind alle sprachlichen und kulturellen Barrieren vergessen. Währenddessen zimmern die Bauarbeiter was das Zeug hält, damit das Finale am Samstag wie geplant über die Bühne gehen kann. Und das wird wieder einmal eine bombastische Show mit vielen großartigen Songs, die dem Eurovision Song Contests in nichts nachstehen soll. Präsident Recep Tayyıp Erdoğan wird als Ehrengast erwartet. Weiß ich ganz sicher - vom Hörensagen.
Das Finale des Turkvision Song Contests wird am 19. Dezember um 15.30 Uhr deutscher Zeit live im Internet übertragen.