Serbien: Turbo-Folk vom Balkan
Auch wenn das Land in seiner jetzigen Form ein vergleichsweise junges Staatsgebilde ist, kann Serbien auf eine lange Geschichte zurückblicken. Seit dem 7. Jahrhundert siedelten serbische Stämme auf dem von Magyaren, Griechen und Bulgaren umkämpften Südwestbalkan. Im Mittelalter entstand aus den verschiedenen Fürstentümern ein serbisches Königreich, das im Spannungsfeld zwischen Rom und Byzanz unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen ausgesetzt war. Im 14. Jahrhundert kam es zur Schlacht auf dem Amselfeld zwischen Serben und Osmanen, in deren Folge das serbische Gebiet an das Osmanische Reich fiel.
Volkslieder uns Kreistänze
Bis heute spielt diese Schlacht eine wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis der Serben. Der fortwährende Kampf gegen die osmanischen Eroberer bot eine Fülle von Stoffen, die in epischen Heldengedichten verarbeitet wurden. Die Überlieferung der zum Teil sehr langen Gedichte erfolgte mündlich, wobei der improvisierte Gesang durch den monotonen Klang der Gusla unterstützt wurde, ein auf dem Balkan weit verbreitetes Streichinstrument mit meist nur einer Saite. Daneben entstanden zahllose Volkslieder, vor allem aber regional sehr unterschiedliche Kreistänze (Kolo oder Oro). So tanzten die Serben den "stumme Kolo", nachdem die Osmanen den Gebrauch von Musikinstrumenten verboten hatten. Dieser Tanz zeichnet sich durch den Rhythmus der stampfenden Füße und das Klingeln der Goldmünzen aus, die als Aussteuer an die Rockzipfel der Frauen angenäht wurden.
Blechblasmusik und "Starogradske pesme"
Durch die intensive Pflege von Traditionen versuchten die Serben, ihre eigene Kultur zu bewahren, vor allem gegenüber den Osmanen. In über 400 Jahren Herrschaft haben die orientalischen Eroberer dennoch ihre Spuren hinterlassen: So entstand im frühen 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der osmanischen Militärkapellen die regionaltypische Blechblasmusik, die heute vor allem von den Roma gepflegt wird. Nachdem die Serben ihre Unabhängigkeit wieder erlangten, hielten auch mitteleuropäische Klänge vor allem aus Österreich-Ungarn Einzug in die serbische Musik. In den urbanen Zentren im Norden entstanden die sogenannten "starogradske pesme" (altstädtische Lieder), die als Vorläufer der heutigen serbischen Unterhaltungsmusik angesehen werden können.
In der ländlich geprägten serbischen Gesellschaft behielt die Volksmusik ihre dominierende Stellung bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg. Neukomponierte Volksmusik vermittelte zwischen den überlieferten Traditionen und dem Bedürfnis nach neuen Melodien und verarbeitete dabei musikalische Trends der internationalen Schlagerszene. Ihre Produktion wurde in jugoslawischer Zeit besonders gefördert, da die ehemals beliebte Musik der Kriegsgegner Deutschland und Italien nicht mehr gespielt werden durfte und Staatschef Tito ein großer Schlagerfan war. Unter dem Einfluss der Popmusik entwickelte sich als Strömung der neukomponierten Volksmusik die "pop-narodna", aus der auch die nationale ESC-Vorentscheidung überwiegend bestückt wird.
Turbo-Folk
Durch den Zerfall der jugoslawischen Föderation und die daraus resultierenden Kriege nahm die musikalische Entwicklung in Serbien eine spezielle Wendung: Auf das Wirtschaftsembargo während des Bosnien-Krieges reagierte die Musikszene mit einer massiven Rückbesinnung auf ihre folkloristischen Wurzeln. Der Wunsch der Zivilbevölkerung nach Zerstreuung wurde durch eine Mischung aus europäischen Dance-Rhythmen und Volksmusik-Elementen bedient, die sich textlich auf die "angenehmen Dinge des Lebens" - Sex und Geld - konzentrierten. Bis heute ist dieser "Turbo-Folk" die beliebteste Musikrichtung in Serbien, mittlerweile bereichert um zahlreiche Anleihen aus der amerikanischen HipHop-Szene, mit der er unter anderem ein recht sexistisches Frauenbild teilt.