Litauen: Musikkultur im Schatten Russlands
Kaum zu glauben, dass Litauen einmal zu den führenden europäischen Großmächten zählte: Zu seinen Glanzzeiten im Spätmittelalter erstreckte sich das ehemalige Großherzogtum von der Ostsee bis ans Schwarze Meer. Seine Geschichte ist daher eng mit der Geschichte Weißrusslands, der Ukraine und vor allem Polens verbunden. Kulturell jedoch sind die Litauer ein sehr eigensinniges Völkchen, was sich schon daran erkennen lässt, dass der Westteil des Landes, Samogitien, erst im 15. Jahrhundert als letzte Region Europas christianisiert wurde. Nicht umsonst setzten die Litauer der samogitischen Sprache und Kultur mit ihrem zweiten ESC-Beitrag "Strazdas" 1999 ein musikalisches Denkmal.
Heidnisches Erbe
Die Übernahme des christlichen Glaubens durch die Litauer entsprang in erster Linie politischem Kalkül. Der litauische Großfürst Jogaila ließ sich taufen, um als Władysław II. Jagiełło den polnischen Königsthron besteigen zu können und begründete so eine mehr als 400 Jahre währende polnisch-litauische Union. Die einfache Bevölkerung hielt dagegen noch lange an ihrem heidnischen Glauben fest, der mit dem Christentum zu einer sehr rustikalen Mythologie verschmolz. Der Teufel spielt darin eine wichtige Rolle als närrischer Volksheld, der eher tollpatschig als böse dargestellt wird. Die enge Verbundenheit mit der Natur und den darin vermuteten Geistern und Gottheiten schlug sich auch in der Volksmusik nieder, die das heidnische Erbe bis in heutige Zeit bewahrt.
Sutartinės
Eines der rätselhaftesten Relikte der litauischen Volkskultur sind die Sutartinės, mehrstimmige Gesänge, bei denen die Interpretinnen einander gegenüberstehen und einander unterschiedliche Melodien mit oft lautmalerischen Texten zusingen. Dabei verbinden sich die Tonfolgen mit ihren oft scharfen Dissonanzen zu einem Klangteppich von fast hypnotischer Wirkung, der durch Händeklatschen rhythmisch gegliedert wird. Die Sutartinės symbolisieren den Einklang mit dem Universum und sollen von Naturgottheiten überliefert sein. Frauen, die sie sangen, galten früher als Hexen. Die fast ausgestorbene Tradition wurde im 20. Jahrhundert neu belebt und zum Symbol für die litauische nationale und kulturelle Identität.
Nationale Selbstfindung damals…
Im Zuge der Aufteilung Polens Ende 18. Jahrhunderts zwischen Preußen, Österreich und Russland geriet Litauen für über 100 Jahre unter russische Herrschaft. Die litauische Musikkultur entwickelte sich nur zögerlich, da die neuen Machthaber den Gebrauch der litauischen Sprache verboten und nur wenigen Litauern eine musikalische Ausbildung möglich war. Eine nationale klassische Musikschule etablierte sich erst mit der Unabhängigkeit 1918. Parallel dazu setzten sich durch die Verbreitung von Tonfilmen und Schallplatten zunehmend Schlager und Tanzmusik westlicher Prägung durch. Auf den kleinen Bühnen der Cafés und Restaurants dominierten noch lange russische Klänge, die aber allmählich von internationalen Einflüssen durchsetzt wurden.
… und heute
Nach dem Einmarsch der Sowjets 1940 war mit nationaler Musik erst einmal wieder Schluss. Erst in den 1970er Jahren wurden neue Anläufe unternommen, eine eigenständige litauische Musikkultur zu schaffen - unter anderem durch die Verbindung von Sutartinės und Jazz. Die erneute Unabhängigkeit 1990 hat eine bunte Rock-, Pop- und Elektroszene nach anglo-amerikanischem Vorbild hervorgebracht, doch der kleine Markt macht den Musikern das Leben schwer und durch Rezession und Raubkopien kann kaum eine Band mit Musik alleine überleben. Noch immer wartet das Land auf den internationalen Durchbruch eines litauischen Musikers, denn im Unterschied zu ihren lettischen Kollegen, die sich erfolgreich nach Russland orientieren, weigern sich die meisten litauischen Künstler, in der Sprache der ehemaligen Besatzer zu singen.