Bulgarien: Pop-Folk auf Erfolgskurs
Bulgarien gilt nicht nur als die Wiege der kyrillischen Schrift. Glaubt man der griechischen Mythologie, liegt dort auch die Heimat des sagenumwobenen Königs Orpheus, der mit seinem Gesang nicht nur Mensch und Tier, sondern selbst leblose Steine betören konnte. Tatsächlich verzaubert das Geheimnis der bulgarischen Stimmen (Le mystère des voix Bulgares) noch heute Musikfreunde in aller Welt: Der unverwechselbare Gesangsstil bulgarischer Frauenchöre eroberte Ende der 80er-Jahre den Markt für Weltmusik und wurde selbst von international erfolgreichen Künstlern wie Kate Bush aufgegriffen.
Charakteristisch für diese Art bulgarischer Chormusik sind nicht nur die für westliche Ohren sehr gewöhnungsbedürftigen Harmonien, sondern vor allem der gedehnte, kehlige Gesang ohne festen Rhythmus, den man in der übrigen europäischen Musik vergeblich sucht. In der Tanzmusik werden ungleichmäßige Taktarten bevorzugt, die selbst geübte Tänzer leicht zum Straucheln bringen können.
Volksmusik und Estrada zwei erfolgreiche Klassiker
Dass Volksmusik heute in Bulgarien eine so bedeutende Rolle spielt, liegt unter anderem an der historischen Entwicklung des Landes. Unter der fast 500 Jahre währenden türkischen Herrschaft war die Volksmusik ein wichtiges Mittel zur Wahrung der bulgarischen Identität. In kommunistischer Zeit war Musik westlicher Herkunft offiziell unerwünscht – die Volksmusik hingegen entsprach der Ideologie einer klassenlosen Gesellschaft und wurde besonders gefördert.
Daneben etablierte sich eine Form bulgarischer Unterhaltungsmusik, die sich an der sowjetischen Popmusik orientierte und wie diese Estrada genannt wird. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wandte sich das bulgarische Publikum zunächst verstärkt westlichen Interpreten zu, doch die neuen Impulse von Dance und Techno fanden schon bald Eingang in die Estrada-Musik. Als authentische bulgarische Popmusik hat sie mittlerweile die westliche Konkurrenz wieder weitgehend vom Markt verdrängt.
Chalga ein Musikstil spaltet das Land
Absoluter Favorit in Kneipen und Diskotheken ist der so genannte Pop-Folk, auch Chalga genannt. Diese wilde Mischung aus traditioneller Balkan-Folklore und orientalischen Einflüssen gilt jedoch als ausgesprochen "prollig" und wird von den gebildeten Schichten als "unbulgarisch" abgelehnt, denn häufig handelt es sich um Coverversionen griechischer oder türkischer Hits. Charakteristisch für Chalga sind nicht nur die anzüglichen Texte, in denen es zuweilen recht eindeutig zur Sache geht, sondern auch das Schönheitsideal der Interpretinnen: Eine echte Chalga-Sängerin hat lange schwarze Haare, einen blassen Teint und körperliche Vorzüge, wie sie in der Regel nur die Schönheitschirurgie hervorbringt. Männliche Chalga-Interpreten dagegen tragen dunkle Sonnenbrillen und preisen die Vorzüge des Gangsterdaseins. So verwundert es nicht, dass Crossover-Projekte mit HipHop-Künstlern gerade voll im Trend liegen.
Eine Musikszene mit vielen Überraschungen
Bislang hat das bulgarische Fernsehen noch keinen Chalga-Titel in den Wettbewerb entsandt. Die kurze Choreinlage des Paradiesvogels Azis an der Seite von Mariana Popova beim ESC in Athen dürfte allerdings ein Vorgeschmack darauf gewesen sein, welche Überraschungen die bulgarische Musik für Europa noch bereit hält.