Belgien: Exportnation für elektronische Musik
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein hat: Die europäische Musikgeschichte hat Belgien eine ganze Menge zu verdanken. Dabei ist das kleine Land erst seit 1830 unabhängig und durch den ständigen Zwist zwischen den beiden Landesteilen Flandern und Wallonien sogar vom Zerfall bedroht. Und angesichts der zweigeteilten Medien- und Hitparadenlandschaft kann von einer "belgischen" Musik eigentlich gar nicht die Rede sein.
Kulturelle Blüte im 14. Jahrhundert
Das Gebiet des heutigen Belgien stand jahrhundertelang unter wechselndem politischen Einfluss. Unter der burgundischen Herrschaft vom 14. bis 16. Jahrhundert erlebte die Region um die Städte Antwerpen, Brügge und Gent eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Die dort ansässigen Musiker sammelten auf ihren Reisen durch Europa verschiedene Einflüsse, vor allem aus Frankreich und Italien, und brachten den mehrstimmigen Gesang zur Perfektion. Diese sogenannte franko-flämische Schule blieb in der gesamten Renaissance wegweisend, bis sich das Zentrum der europäischen Musik im 17. Jahrhundert nach Italien verlagerte.
Mit der Unabhängigkeit 1830 begannen auch die Spannungen zwischen den französischsprachigen Wallonen und den flämischsprechenden Flamen. Das verhinderte die Entstehung einer gemeinsamen belgischen Musik, weil sich die Wallonen stärker nach Frankreich orientierten und die Kultur der flämischen Mehrheit weitgehend ignorierten. Bis 1898 blieb Französisch die einzige offizielle Landessprache.
Virtuoses Gitarrenspiel und französische Chansons
1840 erfand der wallonische Instrumentenbauer Adolphe Sax das Saxophon, ohne das der Siegeszug des Jazz im 20. Jahrhundert nicht vorstellbar wäre. Ein weiterer Belgier gilt als ein Begründer des europäischen Jazz: Django Reinhardt. Der begnadete Jazzgitarrist, 1910 in Belgien geboren, verschmolz Elemente des typischen Südstaaten-Jazz der USA mit französischen Walzern, den valses musettes, und Gypsy-Melodien. Berühmt wurde Reinhardt auch für sein äußerst virtuoses Gitarrenspiel.
Nicht weniger erfolgreich und international bekannt ist Jacques Brel. Der wohl berühmteste Chansonsänger aller Zeiten stammt aus der Nähe von Brüssel. Chansons wie "Ne me quitte pas" oder "Amsterdam" haben ihn unsterblich gemacht. Die Zerrissenheit Belgiens zwischen den Kulturen spiegelt sich auch in einigen Liedern Brels wieder: Die meisten seiner Chansons sind französisch, doch auch immer wieder besingt er gerade seine Heimat auf flämisch. Gemein ist allen Künstlern, dass sie ihren Durchbruch erst schafften, nachdem sie Belgien den Rücken gekehrt und sich in Frankreich niedergelassen hatten.
Eine gemeinsame belgische Musik konnte auf diese Weise nicht entstehen. Doch während wallonische Künstler angesichts der übermächtigen französischen Konkurrenz im eigenen Land zumeist ein Schattendasein fristeten, war der heimische Markt für flämische Musiker gerade groß genug. Pionierarbeit bei der Schaffung einer flämischen Unterhaltungsmusik leistete Sänger und Kunstpfeifer Bobbejaan Schoepen, der in den 1950er-Jahren als erster belgischer Künstler zu internationalem Ruhm gelangte und das Land auch 1957 beim Eurovision Song Contest vertrat. Mit dem Festival von Knokke-Heist, das in den 1960er-Jahren als wichtiges Karrieresprungbrett für Künstler aus ganz Europa galt, untermauerte der flämische Landesteil seinen musikalischen Führungsanspruch.
Festivals und elektronische Musik
Die Weltausstellung 1958 in Brüssel machte eine breite Öffentlichkeit mit den bis dato noch ungewohnten Klängen der elektronischen Musik vertraut. Für den kleinen Musikmarkt Belgien erwiesen sich die neuartigen Instrumente aufgrund ihrer geringen Anschaffungskosten als Glücksfall: Elektronische Musik wie der New Beat, eine Urform der Dance-Music, macht den Großteil der belgischen Musikexporte aus.
In englischer Sprache erstürmen flämische Künstler mittlerweile auch in anderen Genres die internationalen Hitparaden, und die Wallonie hat in den letzten Jahren mit Stars wie Lara Fabian gleichgezogen. Der Sprachenstreit ist allerdings längst nicht aus der Welt. Kein Wunder, dass Belgien bei repräsentativen Anlässen wie dem ESC immer wieder auf Kunstsprachen zurückgreift.