Stand: 07.03.2015 18:45 Uhr

Nachwehen eines unsterblichen Abends

Nie war eine deutsche Vorentscheidung so intensiv nach Ende der Show verhandelt worden - in den sozialen Netzwerken, wie auch in den klassischen Medien (papiernen wie elektronischen). Freitag machte die "Bild"-Zeitung den ESC und die Demission Andreas Kümmerts zum Aufmacher der Ausgabe. Aber es sind nicht nur die Boulevardblätter, die das Ereignis thematisierten, sondern auch die sogenannten Qualitätsblätter.

Männlichkeitsfragen in den Medien

Meine eigene Deutung habe ich in der TAZ verfasst. Sie widmete sich dem Umstand, dass da ein Mann über Nacht zum Helden der vermeintlichen Versager wird. Wie es geschah, dass da einer gewinnt, weil er nicht aussieht wie die üblich-geleckten Pop-Stars, sondern wie ein Typ, den man nebenbei, ohne viel Schmuck und Gedöns, im Club am Tresen treffen kann. Auf den Aspekt des leistungsverängstigten Mannes weist auch Stefan Kuzmany auf Spiegel Online hin. Blogger und FAZ-Autor Stefan Niggemeier schließt seinen Kommentar mit zwei Sätzen: "Vielleicht ist das der Schlüssel zur Erklärung: Da ist jemand, dem Sympathien zufliegen, weil er ein großer kleiner Sänger ist. Aber die großen Bühnen und das öffentliche Interesse machen es ihm unmöglich, genau das zu bleiben."
Und Mathias Matussek von der "B.Z." erkennt in seinem Kommentar ganz richtig: "Neinsager werden unsterblich."

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Andreas Kümmert auf der Bühne beim deutschen ESC-Vorentscheid. © NDR Foto: Rolf Klatt

#Kümmertgate: Reaktionen zum Rücktritt im Netz

Flache Wortwitze und Kinski-Vergleiche: ESC-Fans, Promis und Medien haben den deutschen Vorentscheid und Andreas Kümmerts Rücktritt heiß diskutiert. mehr

Tatsächlich teilt sich das Feld der Meinungen ungefähr fifty-fifty. Dieses geteilte Lager spiegelt sich überall, in allen Umfragen. Die einen fühlen sich betrogen um die Chance, einen anderen Act zu wählen als eben Kümmert , andere finden, der Unterfranke Andreas Kümmert habe richtig, vor allem für sich stimmig, gehandelt.

Andreas Kümmert auf der Bühne beim deutschen ESC-Vorentscheid. © NDR Foto: Rolf Klatt
Neben vielen Menschen, die Andreas Kümmerts Reaktion auf seinen Sieg beim Vorentscheid verstehen, gibt es auch scharfe Kritiker.

Stellvertrend für viele Netzkommentare hier ein Eintrag auf Facebook von Albrecht Piper aus Berlin. Der Rundfunkmann und ESC-Beobachter hat auf  therapeutisches Gerede keine Lust: "Ich kann mich in die Riege der 'Zeichen setzen'- und 'Rückgrat zeigen'-Versteher nicht einreihen. Wenn ich eine tolle Stimme habe, die Millionen begeistern könnte, aber ich singe trotzdem am liebsten im Schlabberpulli vor 50 Leuten in einem verrauchten Club, weil mir der TV-Medienzirkus und das ganze Tamtam drumrum nicht passen - okay, kein Problem. Aber dann bewerbe ich mich doch nicht ausgerechnet beim ESC-Vorentscheid, wo ich genau damit rechnen muss. Und blockiere auch noch einen Platz für andere, die hart dafür arbeiten und darin die Erfüllung all ihrer Wünsche sehen. Showbiz heißt nun mal nicht nur zwei Minuten auf der Bühne stehen und singen. Ein Maler oder Schriftsteller kann sagen: Guckt meine Bilder und lest meine Bücher, aber lasst mich persönlich in Ruhe. Das kann funktionieren. Aber ein Schauspieler oder Sänger, der sein eigenes Produkt ist, der kann das nun mal nicht, und wer das nicht wahrhaben will, hat in dem Gewerbe nix zu suchen."

 Geraune aus weltfernen Gegenden

Im Netz werden unterschiedliche, aber nachträgliche Forderungen gestellt. Die einen sagen, die Entscheidung hätte nicht in der Sendung gefällt werden sollen, man hätte in Ruhe überlegen sollen, wie man weiter vorgeht. Andere glauben zu wissen, was Raab gemacht hätte, nämlich einfach eine weitere Votingrunde durchgeführt. Peer Steinbrück, Ex-Kanzlerkandidat der SPD, hätte dazu kommentiert: Hätte, hätte, Fahrradkette! War eben ‘ne Tatsachenentscheidung.

Andreas Kümmert im Gespräch mit Barbara Schöneberger auf der Bühne beim deutschen ESC-Vorentscheid. © NDR Foto: Rolf Klatt
Barbara Schöneberger hat nach einigen Schrecksekunden souverän auf Andreas Kümmerts Rücktritt reagiert.

Viele haben sich nach dem Abend beschwert, Telefongeld für Andreas Kümmert ausgegeben zu haben. Sie fühlten sich betrogen. Die Show solle wiederholt werden. Ich würde sagen: Das ist Gemecker aus geizigen Motiven, von schmalen Charakteren. Wer die Show wiederholt sehen möchte, spricht nicht über die Wirklichkeit - das ist Geraune aus weltfernen Gegenden. Ist es denn so schwer? Es war ein magischer Abend. Mit einem Treffer voller, wenn man so will, Ungerechtigkeit in letzter Spielminute. Barbara Schöneberger war ein geistesgegenwärtiger Schiri. Eine Tatsachenentscheiderin, wie gelobt gesagt wurde, von starker Souveränität. Sie nahm das Begehr vom ersten Sieger ernst. Was hätte sie denn sonst tun sollen?

Kein Platz für Verschwörungstheorien

ESC-Kandidatin Ann Sophie singt in ein Mikrofon, während goldenes Konfetti auf sie herunter regnet. © NDR Foto: Rolf Klatt
Auch Ann Sophie musste sich erst sammeln, als ihr klar wurde, dass sie nun nach Wien zum Finale fährt. Aber sie ist Profi und hat ihren erneuten Auftritt mit Bravour über die Bühne gebracht.

Claudia Wick, Fernsehkritikerin unter anderem für die "Berliner Zeitung", schreibt in einem Post, es könnten, so sinngemäß, noch ganz andere Dinge hinter Kümmerts Verzicht stecken - etwa, dass er noch bei einem anderen TV-Sender unter Vertrag stehe.
Nun, ist er nicht. Aber: Womöglich betreten wir hier jedoch das graue Feld der Verschwörungstheorien, und die lassen wir jetzt mal hinter uns, denn ab sofort ist das ablehnende beziehungsweise verständnisheischende Analysieren aus dem Fernglas in Sachen Kümmert vorbei. Und wir schalten um zu Erörterungen internationaler Art - gucken wir also auf den 23. Mai. Ann Sophie findet bislang guten Anklang unter ESC-Fans. Das wird sich weiter entwickeln.

Man könnte  sagen: Es war diese Vorentscheidung eine, bei der der wahrhaftigste Moment der jüngeren Popgeschichte geboren wurde. Eine Frau, die unbedingt performen will und es kann - und ein Mann, der seine Musik darbieten will und kaum zum Ausflug nach Wien zu bewegen ist, weil er Angst vor Scheinwerfern hat. Also: hier der erschöpfte Mann, dort die erstrahlende Frau - und es ließe sich anfügen, die Mischform beider Phänomene war im Vorjahr Conchita Wurst. Ein Mann, der zur Frau wird, um "Rise Like A Phoenix" zu beschwören.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 05.03.2015 | 20:15 Uhr

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